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Comic-Review: Lost Girls (Cross Cult)

Cross Cult hat keine Mühen gescheut, das Opus magnum von Alan Moore und Melinda Gebbie in bibliophiler Form herauszugeben.

lost_girls_cover (c) Cross Cult / Zum Vergrößern auf das Bild klickenNoch bevor man die erste Seite aufschlägt: Ein haptischer Hochgenuss! Eine edle Box, drei sorgsam editierte Bände, hochwertiges Papier, das Nachwort als Beiblatt beigelegt. Die ansprechende Aufmachung ist dem Inhalt der Graphic Novel angemessen. Immerhin haben Melinda Gebbie (Zeichnungen) und Alan Moore (Text) sechzehn Jahre lang an "Lost Girls" gearbeitet, ehe sie 2006 vollendet war. Um die hocherotische Graphic Novel entwickelte sich alsbald eine veritable Pornographie-Diskussion.


Dazu sei kurz folgendes gesagt: Geht man von der bloßen Darstellungsebene aus und versteht man unter Pornographie "die sprachliche und/oder bildlische Darstellung sexueller Handlungen unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs": Ja, dann ist "Lost Girls" wohl Pornographie, der Hinweis "Nur für Erwachsene" prangt völlig zu Recht auf der Rückseite der Box. Definiert man aber über die Wirkungsebene, also ob ein Werk "ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Betrachter abzielt", dann ist "Lost Girls" keine Pornographie. Zu vielschichtig, komplex, doppelbödig, tiefgründig und klug ist die Handlung von "Lost Girls" und deren Umsetzung.


Die Rahmengeschichte scheint frei von Giovanni Boccaccios "Decamerone", der wohl bekannteste erotische Novellensammlung der Literaturgeschichte, inspiriert. Dort fliehen sieben Frauen und drei Männer vor der Gefahr der Pest, des Schwarzen Todes, aus Florenz in ein Landhaus und vertreiben sich die Zeit mit dem Erzählen von erotischen Geschichten. Bereits im "Decamerone" geht es also um beides, Eros und Thanatos; Sexual- und Todestrieb bilden ein sich wechselseitig bedingendes Paar, in dem der eine Part ohne den anderen nicht denkbar wäre.


Moores Interesse für das 19. Jahrhundert, in dem er die Wurzeln der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ortet, ist allseits bekannt ("From Hell" sei erwähnt), und so siedelt er seine Geschichte im Fin de siècle an. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges treffen in der Nobelpension Himmelgarten am österreichischen Ufer des Bodensees drei höchst unterschiedliche Frauen aufeinander.


Es handelt sich dabei um bekannte Mädchengestalten aus Kinderbüchern, inzwischen aber allesamt um die Jahre ihres Erscheinens in der Literatur gealtert. Sie haben ihre Kindheit längst hinter sich gelassen, verloren, und sind zu erwachsenen Frauen geworden: Die älteste der drei Frauen ist Alice ("Alice im Wunderland"), eine zynische, abgeklärte Vertreterin der Oberschicht. Weiters wohnt im Hotel Wendy Darling aus "Peter Pan" (der Titel der Graphic Novel ist eine Paraphrase auf die "Lost Boys", die Jungen-Bande um das ewige Kind Peter Pan). Geschnürt in das enge Korsett einer bürgerlichen Ehe, in der Sexualität nur noch in sublimierter Form eine Rolle spielt, steht sie für die Mittelschicht. Dorothy Gale, bekannt aus dem "Wizard of Oz" ist die dritte im Bunde: Sie ist das verdorbene Unterschicht-Girl aus Kansas.


Ein Handlungsstrang besteht nun darin, dass sich die drei Frauen alternierend ihre Lebensgeschichten erzählen. Schon jede einzelne dieser drei ins Sexuelle gewendeten Neuinterpretationen der Kinderbuchklassiker "Alice im Wunderland", "Peter Pan" und "Der Zauberer von Oz" für sich alleine könnte als großartige Graphic Novel bestehen. Und für jede dieser Erzählungen hat Melinda Gebbie einen eigenen graphischen Stil gefunden: Alice erzählt in ovalen Panels, also von "hinter den Spiegeln" aus; Wendy Darlings Schilderungen sind im Tiffany-Stil gehalten, während Dorothy Gales Abenteuer in Kansas von einer expressionistischen Bildsprache geprägt sind.


Gleichzeitig verstricken die drei Frauen sich selbst und ihre Umgebung in einen erotischen Taumel, der keinerlei Tabus kennt. Doch über all den unbeschwerten Ausschweifungen schweben wie düstere Wolken die Vorboten des Ersten Weltkrieges. Der schließlich auch ausbricht: Während die Frauen einen Ausflug auf die Insel Mainau unternehmen, wird gleichzeitig in Sarajewo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet – der Funke, der das Pulverfass zur Explosion bringt.


Zuerst verlassen nun die männlichen Gäste das Hotel Himmelgarten – waren sie gestern noch Freunde (oder vielmehr Sexpartner), stehen sie sich plötzlich als unversöhnliche Mitglieder der Kriegsparteien gegenüber. Nach und nach reisen auch die anderen Gäste ab, bis Alice, Wendy und Dorothy als letzte Gäste im Hotel verblieben sind.


Die Spannung entlädt sich in einer allerletzten Orgie der drei Frauen mit dem Direktor und dem Personal der Pension Himmelgarten. Am nächsten Morgen finden sich die Frauen alleine im Hotel wieder – auch die Angestellten sind geflohen – und gehen schlussendlich ebenfalls fort. Alice muss ihren Spiegel zurücklassen. Und dann kommen die Soldaten, der Krieg, der Tod. Und Alices Spiegel zerbricht. Thanatos hat über Eros obsiegt.


Kenner von Moores Werk wissen: Unter der Oberfläche seiner Geschichten spinnt er immer ein feines, weit verzweigtes Netz aus kulturellen und historischen Anspielungen, Querverweisen und Reminiszenzen. Das ist in "Lost Girls" nicht anders – nur eine kleine Auswahl: Der "Doktor aus Wien", also Sigmund Freud, Igor Stravinsky und die skandalumwitterte Premiere seines Balletts "Le sacre De printemps", die schon erwähnte Ermordung des österreichischen Thronfolgers spielen unter anderem eine Rolle.


Mit Melinda Gebbie als Zeichnerin aber hat Moore eine wirklich kongeniale Partnerin gefunden (und das auch privat, den die beiden haben sich im Zuge der gemeinsamen Arbeit an "Lost Girls" ineinander verliebt und sind nun verheiratet). Sie setzt Moores Spiel mit Referenzen, Querverweisen und Anspielungen auf der graphischen Ebene in beeindruckender Weise fort und um: Da werden in den Zeichnungen immer wieder bedeutende Künstler des Fin de siècle zitiert, seien es nun Mucha, Schiele, Beardsley oder Tiffany. Und trotz des oftmals eindeutigen Inhalts verströmen ihre Buntstiftzeichnungen auch immer einen Hauch von Leichtigkeit und Naivität.


Zwei Meister ihres Faches haben sich gefunden und ein wirklich großartiges Werk vorgelegt. Wer intelligente Graphic Novels liebt (und nicht prüde ist), wird "Lost Girls" lieben.

# # # Gustav Ganz # # #




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