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Communities of Play – Emergent Cultures in Multiplayer Games and Virtual Worlds

Das Buch "Communities of Play" von Celia Pearce wird in diesem Beitrag von Karl H. Stingeder für SLAM eingehend besprochen. Dabei handelt es sich um eine beeindruckende ethnografische Untersuchung der Gaming-Kultur.

(C) MIT Press / Communities of Play / Zum Vergrößern auf das Bild klickenAbstract

Mit dem Aufstieg digitaler Netzwerke etablieren sich Onlinespiele-Com­munities in Online-Games und virtuellen Welten. Es bilden sich Gemein­schaften, welche die Grenzen des Game Designs sprengen: Communities und soziale Bindungen, die nach Abschalten der Server durch Betreiber­firmen fortbestehen und gemeinsam neue Online-Heimstätten suchen. Pearces Studie ist eine beeindruckende, ethnografische Untersuch­ung. Im Brennpunkt stehen Spieler, die sich mit der Einstellung des Online-Multiplayer-Games "Uru: Ages Beyond the Myst" auf die Suche nach einer neuen, virtuellen Heimat machen und sich im Zuge dessen als "der Heimat beraubte Flüchtlinge" identifizieren. Mit dem Abschalten des Online-Spiels erlebten Uru-Spieler ein traumatisches, gemein­schaftsförderndes Ereignis. Auch wurde mit der "Diaspora" und der Immigration in die virtuellen Welten "There.com" oder "Second Life" für die "Uru-Flüchtlinge" die Basis für eine Verdichtung von "Vergemein­schaftung" gelegt. Somit können das Gemeinschafts- und Heimat­gefühl als "soziale Triebfedern" in Online-Gemeinschaften gesehen werden.


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Sind Online-Spiele-Gemeinschaften soziale Heimstätten und Samen für Gemeinschaftskultur? "Überleben" Spiel-Communities den Verlust der virtuellen Heimat? Celia Pearce kontert mit "Communities of Play" dem ludologischen Stigma des "unproduktiven Spiels" und sieht in Online-Game-Communities eine Quelle der Kreativität und eine Basis für starke soziale Bindungen. Im Zuge ihrer 18-monatigen Feldforschung kristallisiert sich der Verlust der Online-Heimat für die entwurzelten "Uru"-Spieler als identitätsstiftendes Ereignis.

Game Studies im Allgemeinen und Gemeinschaften in virtuelle Welten als Untersuchungsobjekt im Besonderen erfreuen sich einer immer größeren Präsenz und Aufmerksamkeit. In kurzer Zeit gelang der Aufstieg eines Forschungszweigs, welcher mit einem beachtlichen Facettenreichtum gesegnet ist. Medienforschung, Politikwissenschaft und Anthropologie sind nur ein kleiner Auszug aus der Gesamtpalette der multidisziplinären Game-Studies-Arena. In diesem Kontext bietet Pearces Studie mit der Untersuchung von Inter-Game-Immigration einen bemerkens­werten Ansatz. Sie verfolgt die Entwicklung von gemeinschaftlicher Ent- und Verwurzelung im Zuge der Diaspora, einer Online-Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum, sowie in unterschiedlichen virtuellen Spiel-Räumen.

 

18 Monate Feldforschung können zweifelsohne als herausragende Forschungsleistung gewertet werden. Der Online-Ethnografin gelingt es eindrucksvoll, unterschiedliche Aspekte von virtuellen Welten und Online-Gemeinschaften zu verknüpfen, sei es auf historischer Ebene anhand einer akzentuierten geschichtlichen Betrachtung der Entwicklung von Multiplayer-Online-Spielen und Online-Welten, oder anhand der Beleuchtung korrespondierender Online-Gemeinschaften, und zuletzt auch im Hinblick auf die Einbettung von Ereignissen, welche die an der Studie Teilnehmenden und Betroffenen der "Uru-Diaspora", nachhaltig prägten.

Wesentlich bei der Bewertung von Pearces wissenschaftlicher Studie ist die demografische Zusammensetzung der untersuchten Gemeinschaft. Während Gender und Alter der Teilnehmer in den meisten Multiplayer-Online-Games eine eindeutige Schlagseite aufweisen – männlich und mehrheitlich unter 30 Jahre alt – konnte Pearce im Zuge ihrer Feldforschung eine unüblich diversifizierte Gruppe von online aktiven Spiel- und Webforen-Usern beobachten und befragen: Frauen und Männer in den mittleren Jahren; einen im Vergleich zu "typischen" Online-Games überdurchschnittlichen hohen Frauenanteil sowie einen hohen Anteil von Gewalt ablehnenden, Schiebe- und Schalt-Rätsel affinen Spieler  mit körperlicher Benachteiligung. Dieser Umstand soll daran erinnern, dass die Untersuchung von "Spiel" und "Spielergemeinschaften" entscheidend von der Entwicklung differenzierter, empirischer Forschungswerkzeuge und deren Anwendung in unterschiedlichen Kontexten abhängt.

 

Pearce schildert den beschrittenen, oftmals steinigen und von Rückschlägen gesäumten Weg in der gewählten Gemeinschaft "The Gathering of Uru". Im Vordergrund steht dabei nicht ihre Rolle als Forscherin, sondern stets die der Gemeinschaft. Der Autorin gelingt es, die eigene Identität – sowie die Wechselbeziehungen zu ihrem Avatar und zu der von Pearce programmierten Co-Autorin, namens Artemesia, – stets als Teil der Online-Community zu begreifen. Der Online-Ethnografin liegt wenig an einer Untersuchung ihres Selbstbilds, vielmehr ist es ihr erklärtes Ziel, soziale Dynamiken der untersuchten Gemeinschaft offen zu legen.

 

Spiel-Gemeinschaften sind keine Erfindung des Internets: Denken wir zum Beispiel an Sportvereine, Schachclubs und Live-Rollenspiele als Nachstellung historischer Ereignisse – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Dennoch schließt sich Pearce der Sichtweise an, dass das Erwachsenenspiel in den USA und Europa weiterhin in einer gesellschaftlich marginalisierten Rolle gesehen werden muss. Während in unseren Kreisen zu ausgewählten ritualisierten Zeitintervallen das "spielerische Verkleiden" sozial verstärkt wird – man denke nur an die Faschingsbräuche oder Halloween – sind Spiel-Gemeinschaften ohne rituelle oder historische Einbettung weiterhin außerhalb der gesellschaftlichen Norm angesiedelt. Communities, welche sich um fiktionale, durch Buch-, Kino- oder Fernsehrezeption populäre Charaktere und Welten drehen, werden tendenziell mit schiefen Augen betrachtet. Diese Spieler-Vereinigungen haben einen hohen Einsatz an Zeit und Kreativität gemeinsam, man denke nur an die Gemeinschaften bei "Star Trek"-Treffen ("Conventions") oder an die Communities rund um "Dungeons und Dragons"-Tabletop-Spiele.

 

Grundlegend ist es Pearce ein Anliegen, für Klarheit beim Begriff "Gemeinschaft" zu sorgen. Was ist folglich mit "Gemeinschaft" gemeint? Ferdinand Tönnies, deutscher Pionier der Soziologie, zitierend, kann "(Gemeinschaft) as an association of individuals with a collective will that is enacted through individual effect […]" betrachtet werden. (Tönnies [1887] 1988, 209; zit. von Pearce 2009: 5) Hinsichtlich des Titels der Studie "Communities of Play" unterstreicht die Autorin, dass der Term als absichtlicher Kontrapunkt zu "communities of practice" gewählt worden sei. "Communities of practice", so Pearce, sind in der Anthropolgie verwurzelt und in Internetstudien sowie computerbezogener Forschung weithin angenommen: "A community of practice is defined as a group of individuals who engage in a process of collective learning and maintain a common identity defined by a shared domain of interest or activity". (Lave und Wenger 1991, zit. von Pearce 2009: 5) Entscheidend dabei ist nach Pearce die Rolle des digitalen Netzwerks in der verstärkenden Funktion aller für Gemeinschaftlichkeit relevanter Aspekte: Soziales und räumliches Ausmaß sowie Entwicklung von Online-Spielgemeinschaften sind derart gestaltet, dass ein weitaus höheres Wachstum, als bei den Offline-Gegenstücken, möglich ist.

 

Im Brennpunkt des Buchs steht das aufstrebende Genre der Massively Multiplayer Online-Spiele und Welten, bekannt durch die in der Games Studies-Forschung weithin zitierten Abkürzungen "MMOWs" (Kurzform für "massively multiplayer online worlds"), MMORPG (Kurzform für "massively multiplayer online role-playing games"), virtuelle Welt oder Metaverse. MMORPGs sind die am meisten genutzten "globalen Spielplätze", wo geneigte User in Avatare schlüpfen, die in Online-Spielwelten handeln, welche aus Literatur, Tabletopspielen oder Filmen bekannter Vorlagen hervorgegangen sind. Gemeinsam mit den MMOWs (welche ohne fix vorgegebenen Spielziele und daher mit "Sandbox"-Game Design versehen und als Gegenstück zu den MMORPGs betrachtet werden können) umspannen diese beide Online-Spielegenre ein weites Feld von Netzwerk-Spielplätzen, welche sich in Spiel-Gemeinschaften und breitgefächerten sozialen Dynamiken äußern.

 

Pearces Anspruch ist die Erforschung der Frage, wie sich Online-Spiel-Gemeinschaften bilden und erhalten, mit speziellem Augenmerk auf die Schnittpunkte zwischen dem Verhalten und dem Design der digitalen Spielräume. Als Impuls wirft Pearce einige interessante Fragen in den Raum: Welche User werden von verschiedenen Arten digitaler Spielräume angezogen, welche Ausgangs-Präferenz und welche Spielmuster können davon ausgehend erkannt werden? Welche Merkmale von spielerischen Umgebungen unterstützen die Ausbildung von bestimmten Spiel-Gemeinschaften? Welche Rollen spielen Design, Governance und das Community-Management aufstrebender Spielkulturen? Wie nutzen und untergraben Spieler Online-Umgebungen? Was passiert, wenn die Betreiber entscheiden, dass der Spielplatz nicht weiter finanziell profitabel ist? Was passiert, wenn eine Spiel-Gemeinschaft, der Einsatz der einzelnen Mitglieder, die soziale Bindung und der gegenseitige Zusammenhalt die Online-Spielwelt überschreiten? Welche Möglichkeiten bestehen, wenn Spielkultur und soziale Bindungen von Online-Umgebung zu Online-Umgebung transportiert werden?

 

Ausgehend von diesen zentralen Fragen fokussiert Pearce sich mit der Betrachtung der "Uru Diaspora" und ihrer teilnehmenden Beobachtung auf eine Spieler-Vereinigung. Diese Gruppe – "The Gathering of Uru" – bildet das Herz der Studie. Gleichzeitig erzählt die Online-Ethnografin eine fesselnde Geschichte über die Ängste und die Bindungen von Spieler, welche gerade wegen des gemeinsam erlebten Traumas – der Verlust der heimatlichen Online-Umgebung – zur gemeinsam Entschlossenheit findet: Der unbedingte Wille als Gruppe zusammen zu bleiben und gemeinsam die "verlorene" Gruppenidentität zu erobern. Pearce erkennt in den Folgewirkungen der "Uru-Diaspora" auch die Macht des Spiels und das Kraftpotential, um eine Gemeinschaft über die Horizonte des Game Designs hinaus neu zu formen, sowohl im Sinne einer neuen Online-Umgebung, als auch mit (Face-to-Face)-Treffen von Spieler.

 

Pearce schreibt verständlich und ihr gelingt das Kunststück, auch komplexe Zusammenhänge greifbar zu machen. Das Buch ist für all jene von großem Interesse, die sich mit Game Design und Virtual World Governance beschäftigen. "Communities of Play" ist insofern eine wissenschaftliche Studie mit Seltenheitswert, da Pearce im letzten Abschnitt erlebte Rückschläge und überwundene Stolpersteine anhand der Tagebuch-Einträge ihrer 18-monatigen Feldstudie offenlegt. Geneigten Lesern und Forschern eröffnet sich daher die rare Gelegenheit einer praxisbezogenen und gut veranschaulichenden Auseinandersetzung mit den Herausforderungen qualitativer Forschung. Auch wird damit verdeutlicht, dass es oftmals notwendig ist,  den metho­dologischen Rahmen in Folge des Forschungs-Feedbacks entsprechend anzupassen. So war die ethnografische Studie ursprünglich als "passiv beobachtende" Studie angelegt. Die Teilnahme durch Pearce sollte auf ein Mindestmaß reduziert werden, um einer befürchteten "Verfälschung" der sozialen Dynamik vorzubeugen. Dieser Ansatz wurde den Mitgliedern der "The Gathering of Uru" jedoch massiv kritisiert und so sah sich die Forscherin gezwungen, den eigenen methodologischen Ansatz zu überdenken.

 

Fazit: "Communities of Play" ist lediglich im Original publiziert, fortgeschrittene Kenntnisse der englischen Sprache sind für eine zugängliche Lektüre Voraussetzung. Celia Pearce serviert mit "Communities of Play" einen fesselnden, sehr anschaulichen und bis dato einzigartigen Game Studies-Beitrag rund um Migration und Immigration bei Online-Spielgemeinschaften am Beispiel der "Uru-Dispora". Die Game Studies-Forscherin wird Zeugin des erzwungenen Umzugs einer Online-Gemeinschaft. Eine Community, die angesichts der Zerstörung der Heimat zu verschiedenen virtuellen (Ersatz-)Welten aufbricht.

Allen Lesern dieser Rezension, die sich eingehender über soziale Dynamiken in Online-Gemeinschaften informieren oder in die Welt der Game Studies bzw. virtuelle Sozial-Dynamiken eintauchen möchten, sei "Communities of Play" wärmstens ans Herz gelegt.

 

# # # Karl H. Stingeder # # #

 

Literatur

 

Lave, Jean/Wenger, Etienne (1991): Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation. Cambridge (GB): Cambridge University Press.

Tönnies, Ferdinand [1887] (1988): Community and Society. Englische Übersetzung aus dem Original, Gemeinschaft und Gesellschaft, New Brunswick, N.J.: Transaction Publishers

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Wie schon beim Vorgänger legt Cross Cult auch zu "300: Rise of an Empire" ein schickes Artbook vor.
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