Ein Ritter hütet ein dunkles Geheimnis, das er geschickt vor den Augen anderer verbirgt.

Eric de Bisclavret lebt ein ruhiges und zurückgezogenes Leben fernab des Hofes. Bei den Menschen in der Umgebung ist der Ritter beliebt und geachtet, nur sein Verschwinden für drei Tage im Monat bietet Anlass für Spekulationen. Insbesondere Ehefrau Catherine ärgert sich darüber und drängt ihren Gatten immer wieder um Auskunft, was in jener Zeit geschieht. Schließlich greift sie zu einem hinterhältigen Trick und gaukelt ihm eine schwere Erkrankung vor.
Am Krankenlager offenbart Eric ein dunkles Geheimnis: Jeden Monat verwandelt er sich für drei Tage in einen Werwolf. Um niemanden zu gefährden, verbringt er diese Zeit in Tiergestalt tief in den Wäldern. Vordergründig gibt Catherine vor, ihren Mann auch trotz des Makels bedingungslos zu lieben, will sich seiner insgeheim jedoch entledigen. Tatsächlich verhindert sie erfolgreich, dass Eric wieder in menschliche Gestalt zurückkehren kann. Fortan lebt er vor den Augen der Menschen verborgen und schmiedet Pläne, um sich an der durchtriebenen Gattin zu rächen. Als eines Tages eine Jagdgesellschaft den Wald durchstreift, rückt die Abrechnung in greifbare Nähe.
Schon seit vielen Jahrhunderten fasziniert die Figur des Werwolfs die Menschen. Die Vorstellung, die menschliche Hülle für eine kurze Zeitspanne abzustreifen und dem Animalischen und Triebhaften, das in uns schlummert, freien Lauf zu lassen, erfreut sich ungebrochener Faszination. So verwundert es kaum, dass entsprechende Erzählungen zum festen Repertoire des "Gruselkabinetts" gehören. Der vorliegende Stoff dürfte jedoch der mit Abstand älteste sein, der in dieser Reihe vertont wurde, schließlich beruht er auf einem Gedicht aus dem 12. Jahrhundert. Obwohl bereits viele Merkmale der klassischen Werwolfgeschichte vertreten sind, werden einige neue Facetten hinzugefügt. Der Wolf verliert hier zwar die menschliche Gestalt, aber nicht Gefühle und Intelligenz, die sein Wesen ausmachen. Liebe und Güte werden nur unter einem abscheulichen Aussehen verborgen, den wahren Monstern geht ihr menschliches Erscheinungsbild zu keinem Zeitpunkt verloren.
Dieser Ansatz unterstreicht auch den märchenhaften Charakter der Story, das tatsächliche Böse erscheint in vielen Varianten und Tugenden können auch im Körper eines Ungeheuers zu Hause sein. Überhaupt überzeugt "Bisclavret" auch in anderen Belangen. Der Plot ist äußerst abwechslungsreich ausgefallen und bietet immer wieder unerwartete Wendungen, es gelingt mühelos, den Ausgang der Erzählung bis kurz vor Ende offen zu gestalten. Die Handlung wird konsequent und ohne jegliche Längen nach vorn getrieben. Wenngleich sich die unheimlichen Passagen eher in der ersten Hälfte des Hörspiels manifestieren, ist Spannung auch im weiteren Verlauf gegeben, denn das Schicksal des Ritters gerät zu keiner Zeit langweilig.
Das zentrale Thema von "Bisclavret" ist ohne Zweifel die Metamorphose, die Verwandlung des Menschen in eine blutgierige Bestie. Das trifft allerdings nur auf den ersten, vordergründigen Blick zu. Tatsächlich geht es hier auch um eine charakterliche Transformation, die sich insbesondere an Catherine und deren Zofe Agnes beobachten lässt, was auch im Hörspiel sehr gut eingefangen wird. Habgier und Egoismus machen jene zu den wahren Monstern, die ihre Menschlichkeit opfern, um ans Ziel zu gelangen und das Tierhafte zutage treten lassen. Ein Weg, der stets mit Konsequenzen verbunden ist, was innerhalb der Geschichte dann wieder den Bogen zur märchenhaften Anmutung von "Bisclavret" schlägt.
Die Soundeffekte beschwören von Anfang an die richtige Stimmung herauf, um die sehr fantasievolle Erzählung genießen zu können. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang die ersten Sekunden der Produktionen, die direkt für Gänsehaut sorgen. Ohne die richtigen Sprecher kann solch eine Adaption jedoch nicht funktionieren, doch auch hier hat Titania nichts dem Zufall überlassen. Antje von der Ahe zeigt sich in absoluter Topform und liefert eine Interpretation der Catherine, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Jean Paul Baeck spielt nicht Eric de Bisclavret, sondern lebt ihn in all seinen emotionalen Facetten, vom vollkommenen Glück bis hin zur puren Verzweiflung. Großartig! Peter Weis als Erzähler ist einmal mehr eine Bank und wird durch talentierte Sprecher wie Rolf Berg, Sabina Trooger, Sascha Zambelly und Ursula Sieg unterstützt. Erneut ein absolut überzeugender "Gruselkabinett"-Beitrag.