Was erwartet uns nach dem Tod? Unsere immer schneller voranschreitende Entwicklung hält eine Vielzahl von Möglichkeiten für uns bereit, doch bergen sie gleichzeitig eine Fülle neuer Gefahren.
Schon immer war und ist der Mensch auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Tod zu überlisten und sein Dasein möglichst lange fortzusetzen. Ein Wunsch, der auch in unserer heutigen Zeit nichts an Aktualität eingebüßt hat. Die immer rasantere Entwicklung auf dem Gebiet der Digitalisierung bietet bis vor kurzem noch utopisch scheinende Möglichkeiten. Einen dieser neuen Wege beschreitet CyroEvolution. Innerhalb weniger Jahre gelang es dem Unternehmen, eine bahnbrechende Idee tatsächlich Realität werden zu lassen.
Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis es realisierbar sein wird, das Bewusstsein Verstorbener zu speichern und ihnen ein Weiterleben in digitaler Form zu ermöglichen. Vivien Westhaven ist eine der Entwicklerin dieser neuen Möglichkeit, den Tod womöglich überwinden zu können. Sie staunt jedoch nicht schlecht, als sie sich plötzlich in einer virtuellen Umgebung wiederfinden und in ihr der Gedanke reift, dass sie tot ist. Zunächst läuft alles offenbar so wie geplant, Viviens Bewusstsein wurde in eine Datenbank transferiert.
Es bleibt nur die bange Frage, was ihren urplötzlichen Tod bewirkt haben könnte. Doch dann bekommt die zunächst heile Welt Risse. Es besteht nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Warum antwortet niemand auf ihre mannigfaltigen Kontaktversuche? Je länger der Aufenthalt in der neuen Umgebung andauert, umso deutlicher wird, dass etwas auf gravierende Weise schief gelaufen zu sein scheint. Gibt es noch Rettung für Vivien? Oder ist sie unwiderruflich in der Welt der Bits und Bytes gefangen?
Wenn man "Midnight Tales" mit einem einzigen Wort beschreiben möchte, dann wird es verdammt schwer, wenn man jedoch ein wenig länger überlegt, drängt sich zwangsläufig das Wort "unberechenbar" auf. Was auf den ersten Blick wenig erfreulich klingt, ist jedoch genau die richtige Begrifflichkeit für eine Serie, die es um jeden Preis vermeidet, sich in ein bestimmtes Korsett quetschen zu lassen, was auch gut so ist, denn so kommt der Hörer in den Genuss einer der abwechslungsreichsten, innovativsten und vor Ideen sprühendsten Hörspielkonzepte der letzten Jahre.
Im Mittelpunkt steht diesmal sicherlich eine Überlegung, die bereits Generationen in der Geschichte der Menschheit beschäftigt hat: Was erwartet uns noch dem Tod? Was, wenn die Antwort lauten würde, dass es weitergeht wie bisher, nur in digitaler Form? Allein dieses Gedankenspiel regt die Fantasie der Menschen an. "Jenseits 2.0" zeigt, welche Schattenseiten diese neuen technischen Errungenschaften für den Homo sapiens bereithalten können. Das Grauen bahnt sich hier nicht auf brachiale Weise seinen Weg, sondern schleicht sich ganz langsam und allmählich in das Bewusstsein der Protagonistin und schließlich des Hörers und offenbart ganz behutsam seine ganze Tragweite und Brutalität.
Der Schrecken ist hier subtiler Natur und fräst sich gemächlich in den Denkprozess des Publikums. Was ist schlimmer, der Tod als Ende von allem oder ein ewiges Leben in vollkommener Einsamkeit? Es verwundert sicherlich nicht, wenn einem dabei sofort der Begriff Folter durch den Kopf schießt. Wir wären hier jedoch nicht bei den "Midnight Tales", wenn die Story nicht auch hier noch eine unerwartete Wende für alle bereithalten würde. Auch im neunten Anlauf immer noch grandios und herrlich unberechenbar.
Spannung ist hier trotz des minimalistischen Settings garantiert und entwickelt sich einfach aus dem Wunsch heraus zu erfahren, wie es mit Vivien weitergehen wird. Eine Tendenz, die sich tatsächlich fast bis zum Schluss aufrechterhalten lässt. Obwohl dieses Hörspiel nahezu eine One-Woman-Show ist und alle anderen Figuren lediglich Beiwerk sind, bleibt die Spannung bis zu Schluss auf einem konstant hohen Level und besticht mit einer enorm dichten und beängstigen Atmosphäre, die fortlaufend wächst, je mehr die Hauptfigur ihr eigenes Schicksal enttarnt.
Die soundtechnische Kulisse erinnert ähnlich wie die Handlung eher an ein Kammerspiel. Wenige Soundeffekte werden in die längeren Monologe eingeflochten, um die Fortschritte oder Niederlagen der Protagonistin akustisch zu dokumentieren. Auch an dieser Front hat man großes Fingerspitzengefühl bewiesen, denn trotz des minimalistischen Charakters in der Gestaltung kommt die Produktion sehr lebendig daher. Die musikalische Bearbeitung lässt ebenfalls keine Wünsche offen und verstärkt die jeweilige Stimmung.
Der Hauptrolle verlangt "Jenseits 2.0" eine Menge ab, muss sie doch fast allein die gesamte Story tragen und mit Leben füllen. Victoria Sturm nimmt diese Herausforderung an und löst die gestellte Aufgabe mit Bravour. Es ist beeindruckend, wie es ihr scheinbar leicht von der Hand geht, die verschiedenen emotionalen Entwicklungsstufen ihrer Figur zu durchleben, ohne dabei unglaubwürdig zu erscheinen. Daneben sind die bekannten Stimmen von Martin Gruber, Matthias Keller und Annette Gunkel zu hören, die das positive Bild dieser Episode abrunden. Unterhaltsam, innovativ, "Midnight Tales". Punkt!