Eine der größten Herausforderungen für Designer von Open-World-Spielen ist, den riesigen Spielplatz, den man gebaut hat, auch schnell und interessant navigierbar zu machen. Immerhin braucht man keine offene Welt, wenn der Spieler sich dann erst nur auf der Weltkarte von Fast-Travel-Punkt zu Fast-Travel-Punkt klickt. Die "Grand Theft Auto"-Serie hat ihre Lösung des Problems schon im Namen: Der Spieler darf einfach jederzeit jedes beliebige Auto klauen und damit herumcruisen. "Assassin's Creed" hat dann gezeigt, wie es auch ohne Auto gehen kann, nämlich mit einem ultra-mobilen Parkour-Superhelden, der auf Häuser klettert und von Dach zu Dach springt.
"Sunset Overdrive" geht noch einen Schritt weiter und zelebriert das möglichst spektakuläre und elegante Navigieren durch die Welt als zentrale Spielmechanik. Die in Geschlecht, Aussehen und Outfit frei erstellbare Spielfigur grindet wie Tony Hawk über Kanten, läuft an Wänden entlang, benutzt Stromkabel als Zip-Lines und springt von Autowracks meterhoch in die Luft wie von einem Gummiball. Die Entwickler von Insomniac Games ("Ratchet & Clank", "Resistance,"
"Fuse") erklären diese Fähigkeiten, indem sie ihr Spiel in einem quietschbunten, selbst-referentiellen Comic-Punk-Universum ansiedeln, in dem die Apokalypse zur quietschbunten "Awesomecalypse" wird.
Ein neuer Energy Drink hat den Großteil der Bevölkerung von Sunset City in bluthungrige Mutanten verwandelt, gegen die es sich nun mithilfe von Teddybären-Granatwerfern, Bowlingkugel-Kanonen, Vereisungs-Gewehren und möglichst stylishen Moves zur Wehr zu setzen gilt. Der Boden ist in "Sunset Overdrive" nämlich der gefährlichste Ort – nur wer durchgehend hin und her zippt und wie ein Flummi durch die Gegend hüpft, hat eine Chance zu überleben sowie in die höheren Sphären des Score-Multipliers vorzudringen.
Neben dem Spaß an der kreativen Navigation steht in "Sunset Overdrive" ein zweites Element ganz klar im Mittelpunkt, und zwar das individuelle Anpassen des Spielerlebnisses. Waffen und Fähigkeiten können durch Upgrades in mehrere Richtungen entwickelt werden, je nachdem welcher Aspekt des Gameplays dem jeweiligen Spieler am meisten Vergnügen bereitet. Zudem kann – wie schon erwähnt – die Spielfigur aus der Kombination unzähliger Elemente selbst erstellt werden, und die beste Nachricht für Entscheidungsphobiker, die vor jedem Charaktererstellungs-Bildschirm zwanghaft mehrere Stunden verbringen: Sie kann auch jederzeit "on the fly" komplett verändert werden, bis hin zum Geschlecht. Nichts ist besser als sich eine sexy Lady mit roten Zöpfchen und Faltenröckchen zusammenzuzimmern und dann aus einer Laune heraus per Knopfdruck einen muskelbepackten Kerl mit roten Zöpfchen und Faltenröckchen daraus zu machen. Progressiv!
Wenn man überhaupt etwas an diesem souverän geschnürten Spielspaßbündel auszusetzen hat, dann ist es der nach dem Prinzip "Wir hauen alles an die Wand und schauen, was kleben bleibt" funktionierende Brachialhumor und die nervigen, klischeehaften Figuren, die man im Lauf der Kampagne über sich ergehen lassen muss. Aber das ist ein geringer Preis für die Möglichkeit, im atemberaubenden Tempo an der Wand eines Hochhauses entlangzulaufen, von dort auf ein Stromkabel zu springen, daran entlangzugrinden und dann mit einer brennenden Gitarre auf eine Horde von Robotern hinabzustürzen.
