
2020 wird uns wohl unauslöschlich als jenes Jahr in Erinnerung bleiben, in dem sich aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie die Straßen schlagartig leerten, jegliches gesellschaftliche Leben zum Stillstand kam und sich die Menschen in die Sicherheit der eigenen vier Wände flüchteten. Eine unheimliche Stimmung machte sich breit – und veranlasste ironischerweise mit Junji Ito auch einen der zeitgenössischen Meister des Horrors made in Japan, sich zu Hause in die Arbeit zu stürzen. Daraus hervorgegangen sind die zwei Bände von "The Liminal Zone", die weitere höchst willkommene Einträge in die Reihe schicker Hardcover-Ausgaben von Carlsen und das aktuellste Material des Künstlers darstellen.
Wie gewohnt dauert es nur wenige Seiten, bis sich der Irrsinn unvermittelt aus meistens (mehr oder weniger) völlig normalen Alltagssituationen heraus Bahn bricht und den geplagten Protagonisten übel mitspielt oder sie im schlimmsten Fall gleich komplett zugrunde richtet. So wartet im ersten Band ein abwechslungsreiches Quartett an Geschichten darauf, die Leserschaft zu beunruhigen: Während der junge Mako mitansehen muss, wie die Frau, die er eigentlich heiraten will, inmitten einer bizarren Community von weinenden Frauen zum neuen Idol mutiert, sieht sich die hübsche Maria an der neuen Schule, einem christlichen Mädcheninternat mit strengem Gefolge, unfreiwillig in die Rolle einer Reinkarnation ihrer heiligen Namensvetterin gedrängt.
Nicht minder überirdisch geht es in "Der Geisterfluss von Aokigahara" zu. In diese gerne als "Selbstmordwald" titulierte Gegend am heiligen Berg Fuji begibt sich der todkranke Norio Taniguchi, um Suizid zu begehen. Seine Freundin Mika, die ihn ins Jenseits begleiten will, muss jedoch schon bald feststellen, dass er durch eine neue Beschäftigung nicht nur geheilt wird, sondern auch eine unheilvolle Transformation durchmacht. Mörderisch geht es anschließend in "Schlaf ein" zu, denn der mäßig erfolgreiche Student Takuya Terada erwacht morgens und glaubt jener Killer zu sein, der die Nachbarschaft in Atem hält, obwohl er sich lediglich in seinen Träumen an die Tat erinnern kann.

Den Auftakt zu Band zwei sollten all jene, die an Mysophobie – sprich der Angst vor Schmutz – leiden, dringend meiden, denn Staub spielt hier eine zentrale und unheimliche Rolle. Yuichi lebt mit seinem Vater und zwei Haushälterinnen, die ausnahmslos mit Putzen beschäftigt sind, in einem Familienanwesen, dessen oberster Stock tabu ist. Dem Geheimnis, das mit der Furcht des Vaters vor dem angeblich im Ort umgehenden Schmutzteufel zu tun hat, geht er schließlich auf den Grund. Den Traum jedes Wissenschaftlers offenbart hingegen ein Besuch Yotas in seiner alten Heimat, denn in dem verlassenen Dorf versehen zahlreiche Perpetuum mobiles ihren Dienst. Wenig überraschend hat der "Fortschritt" natürlich einen hohen Preis, denn offenbar auch der Besucher und seine drei Begleiter zu zahlen haben…
Anschließend gibt es ein Wiedersehen mit den Geschwistern Hikizuri, die eingefleischte Ito-Fans bereits aus
"Lovesickness" kennen. Diesmal gerät die junge Waise Hotaru in den Orbit der schrägen Familie, da sie sich Hilfe gegen die unbegreifliche Last verspricht, die seit jeher auf ihr lastet. Den finalen Tusch von "The Liminal Zone" bestreitet "Die Schildkröten vom Manju-Sumpf", das sich um eine unheilvolle Prophezeiung des nahenden Todes handelt, wie sie sich eigentlich nur der japanische Meister des bizarren Horrors einfallen lassen konnte. Wie er im Nachwort verrät, basiert die Geschichte auf dem Fund einer Schildkröte, die er vor dem Straßenverkehr retten wollte – diesbezüglich kann man nur hoffen, dass er auch weiterhin genug Inspiration erhält, um für neue Episoden seines vorzüglichen Gänsehautrepertoires zu sorgen!