Sie ist wieder da, obwohl sie eigentlich nie weg war – die "Zeit der Apokalypse", eine der besten Sagas, die Marvel Comics jemals hervorgebracht hat.
Als Leser von Superhelden-Comics musste man in den 1990er Jahren über einen dicken Geldbeutel verfügen, wenn man auch nur einen Bruchteil der veröffentlichten Hefte sein Eigen nennen wollte. Der Markt in den USA boomte, angefacht durch eine gigantische Spekulationsblase, die Abertausende dazu veranlasste, Comics primär als Wertobjekte zu betrachten und so Millionen von ihnen über die Ladentheken wandern zu lassen – von einzelnen Ausgaben, wohlgemerkt. So ist "X-Men" 1 von 1991 dank mehrerer Variantcover mit acht Millionen Exemplaren im "Guiness-Buch der Rekorde" als bestverkaufter Comic vermerkt. Immer neue Serien, immer neue Ausgaben mit Hologramm-, Glow-in-the-dark- oder Folien-Cover, beigelegten Trading Cards oder anderen Gimmicks erschienen und führten den Comic-Markt ab 1993 in den kommerziellen (und vielerorts auch künstlerischen) Abgrund. Marvel Comics musste als Folge davon zwei Jahre später sogar seinen Bankrott erklären.
1994
saß man aber noch einigermaßen fest im Sattel und machte sich daran, dem ewigen Konkurrenten DC Paroli zu bieten. Der hatte nämlich 1992 mit "The Death of Superman" und der "Knightfall"-Saga um Batman seine Auflagen ordentlich in die Höhe getrieben, sodass man mit einem eigenen großen Wurf kontern wollte. Im Fall von Spider-Man bedeutete dies die Rückkehr seines Doppelgänger im Rahmen der berühmt-berüchtigten zweiten "Klon-Saga", bei den hauseigenen Mutanten den Startschuss zu einem weiteren der damals üblichen sommerlichen Crossover über mehrere Serien des Verlags: "Age of Apocalypse".
Vorausgegangen war dem die Rückkehr von David Haller alias Legion, dem schizophrenen Sohn von Charles Xavier, in der Storyline "Legion Quest" (Dezember 1994 bis Februar 1995). Um dem Traum seines Vaters vom friedlichen Zusammenleben zwischen Mensch und Mutant zu erfüllen, reiste er 20 Jahre zurück in die Zeit. Dort wollte er Erik Lehnsherr eliminieren, bevor dieser als Magneto den Kampf gegen den Homo sapiens beginnen konnte, doch tötete versehentlich seinen Vater. Die X-Realität, wie wir sie kennen, wurde mit einem Schlag ausgelöscht. Schnitt! Wir finden uns in einer Zukunft wieder, die an Trostlosigkeit, Hass und Angst kaum zu überbieten ist. Charles Xavier hat die X-Men nie gegründet, das hat letztendlich Magneto im Andenken an ihn getan. Gemeinsam mit seinen ehemaligen Schülern kämpft er gegen den mächtigen Apocalypse und seine Schergen, die bereits weite Teile Nordamerikas von den Menschen gesäubert und dabei riesige Leichenberge aufgetürmt haben. Auch sonst ist nichts, wie es einst war: Den Lesern als gutartig bekannte Charaktere wie Beast sind in dieser Realität plötzlich böse, während Erzschurke Sabretooth ein Mitglied der X-Men ist.
In diese "Zeit der Apokalypse" platzt unvermittelt Bishop hinein, der sich seltsamerweise an die Geschehnisse um Legion erinnert und Magneto beschwört, die einstige Realität um jeden Preis wiederherzustellen und damit die Vernichtung allen Seins zu verhindern. Nachdem seine Worte zuerst als Phantastereien eines Spinners abgetan werden, verdichten sich schnell die Indizien dass sie wahr sind. Um den Preis der Loyalität seiner Mitstreiter entschließt sich Magneto, alles zu unternehmen, um Apocalypses Pläne zu durchkreuzen, auch wenn dies das Ende dieser Realität bedeutet. Soweit der Einstieg mit dem Oneshot "X-Men: Alpha" von März 1995, dessen einzelne Erzählstränge bis zum abschließenden "X-Men: Omega" vier Monate lang in völlig neuen, mit der Nummer 1 gestarteten Serien aufgegriffen wurden. So mutierten beispielsweise die beiden Stammtitel "Uncanny X-Men" und "X-Men" zu "Astonishing X-Men" und "Amazing X-Men".
38 Ein
zelhefte mit insgesamt über 1000 Seiten wurden von den verschiedenen Kreativteams gestaltet, unter ihnen sowohl eine Riege von Top-Autoren wie Mark Waid, Fabian Nicieza, Scott Lobdell, Warren Ellis und Jeph Loeb als auch neben den legendären Kubert-Brüdern Adam und Andy junge Zeichnertalente, die noch immer zu den heißen Namen in der Branche gehören – unter ihnen Joe "Mad" Madureira ("Battle Chasers", Videogame
"Darksiders"), Chris Bachalo ("X-Men", "The Amazing Spider-Man"), Steve Epting ("Captain America") oder Salvador Larroca ("Iron Man"). Es bedurfte eine Menge an Koordination für das bis dahin größte Crossover, das Marvel in seiner Verlagsgeschichte produziert hatte. Das Ergebnis kann sich mehr als sehen lassen, die einzelnen Reihen funktionieren sowohl einzeln als auch chronologisch gelesen. Die enge Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge und jede Menge Querverweise stechen besonders dann ins Auge, wenn man die Saga am Stück liest. So kann die Parabel über Rassenhass, Faschismus, religiösen Fanatismus und Opportunismus, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen, ihre Wirkung am besten entfalten.
Deutschen Lesern, die nicht auf die US-Originale zurückgreifen wollten, blieb diese Möglichkeit lange Jahre verwehrt. Marvel Deutschland, als erster Comic-Imprint von Panini gerade eben an den Start gegangen, stieg kurz vor "Legion Quest" in den X-Kosmos ein und druckte "X-Men Alpha", "The Astonishing X-Men" 1-4, "The Amazing X-Men" 1-4 und "X-Men Omega" in den Ausgaben 5 bis 10 seiner im Februar 1997 gestarteten "X-Men"-Monatsserie ab. In den ersten vier Heften von "Wolverine" kamen die vier US-Hefte von "Weapon X" (als Ersatz für "Wolverine") und "X-Man" (statt "Cable") zum Abdruck. 2007/08 endlich erbarmte sich Panini, druckte die vollständige "Zeit der Apokalypse" in vier dicken Paperbacks nach und ließ die Fans doch noch in den Genuss der damals ausgelassenen Hefte kommen.
# # # Andreas Grabenschweiger # # #