01.-03.08.2014
Dolina Trzech Stawów, Katowice
Es ist sicher unmöglich, jeden Interpreten eines dreitägigen Festivals in der gebührenden Länge zu beachten. Vielmehr noch, wenn der berichtende Journalist bereits im Vorfeld eine Auswahl getroffen hat, um sich ganz bewusst den wesentlichen Acts zu widmen, die er aus eigener musikalischer Sozialisation am besten verstehen kann. Zumindest einen Versuch ist es wert.
Am Vorabend des Festivals treten die verrückten Amerikaner von TUXEDOMOON im alten Kino Rialto auf. Verrückt ist die Band zu nennen, wie sie aus Blues- und Rockabilly-Versatzstücken einen instrumentell herausfordernden Sound generiert. Zudem der Soundtüftler immer wieder kuriose Verlautbarungen von sich lässt, Stichwort: Geheimwissenschaften und Conspiracy.
TUXEDOMOON
Davon heben sich EARTH in der Parafia Evangelicka wohltuend ab: Slow-Motion-Drones erfüllen das Kirchengebäude – der Raum wird zur Resonanz dieser monoton dräuenden Rock-Darbietung. Dylan Carlson geniert sich dann auch nicht, eher häretische Titel in den evangelischen Altarraum mit seiner Micky Maus-Stimme zu intonieren. Irgendwann macht sich beim Schreiber doch die Anreise bemerkbar und man schunkelt sich in den Schlaf.
EARTH
Der erste offizielle Festivaltag startet mit Wolken am Himmel. Doch für CEREBRAL BALLZY ist das Wetter nur von zweiter Bedeutung. Jägermeister und wohl auch andere Drogen regeln das Zusammenspiel. Während die New Yorker auf Platte präzise auf den Punkt spielen, wirkt der Gesang von Honor Titus neben der Spur. Andererseits verstärkt dieser angetrunkene Zustand die Durchschlagskraft des Punk-Gemischs. Vor allem der Bassist am gelben Instrument überzeugt mit Virtuosität.
CEREBRAL BALLZY
Auf der Forest Stage scheint sich über die drei Tage das Punk-Lager installiert zu haben. Kurz danach spielen INKWIZYCJA: Recht einfach gespielter Punk mit polnischen Texten, die für das lokale Publikum mit entsprechender Verve vorgetragen werden. Sänger Dariusz "Ex Pert" Eckert verkauft auch seinen Gedichtband auf dem Festival.
Man muss den OFF-Machern – allen voran ARTUR ROJEK, der 2014 auch selbst dort auftritt – einen breiten Musikgeschmack attestieren, denn LOS CAMPESINOS! auf der MBank Stage, die von der lokalen gleichnamigen Bank gesponsort wird, bieten gefälligen Breitwand-Indie-Rock. Die Sonne scheint noch, die Menschenmassen sind noch nicht versammelt.
Eine ziemliche Überraschung für ein sich letztlich doch als hip wahrnehmendes Publikum war die polnische Combo KOBIETY GRAJĄ "KOBIETY" (auf Deutsch: Frauen spielen "Frauen") – im Festivalinfo steht etwas von Avant-Pop, doch klingen Stücke wie "Marcello" wie reiner Schlager. Zeitgleich spielt auf der experimentellen Bühne LYLA FOY, die mit sanfter Stimme im überfüllten Zelt wenig charakteristische Stücke zum Besten gibt.
Sie scheint beim Publikum gut anzukommen, aber es zieht dann schon zur anderen Zeltbühne, zur Trójika Stage, wo PERFUME GENIUS androgyne Tastentöne anschlägt, eine sehr stimmungsvolle Show noch während des Tageslichts präsentiert. Von Vorteil ist wohl, dass er im Zelt auftritt, da dadurch die stimmungsvolle Rotlicht-Show besser zur Geltung kommt.
Wenig spektakulär klingt hingegen der Rock'n'Roll der fünf wilden Jungs von den BLACK LIPS. Etwas trivial, und als ein Platzregen einsetzt, verziehen wir uns zur nahegelegenen Zeltbühne, wo die Finnen von ORANSSI PAZUZU bereits Soundcheck machen.
BLACK LIPS
Kann man Black Metal überzeugend mit Space Rock à la HAWKWIND kreuzen? Ja, ORANSSI PAZUZU beweisen das eindeutig: Sie bieten als musikalische Outsider des OFF Festivals die kohärenteste Show der drei Tage. Psychedelische Höllentrips und Gitarren-Tremolo, und es sind nicht die Kuttenträger, die hier ihre Körper zur wilden Musik bewegen. Beeindruckend.
ORANSSI PAZUZU
MICHAEL ROTHER tritt als ehemaliges Mitglied von NEU! und HARMONIA auf, präsentiert jedoch auch ausreichend Stücke seiner Soloplatten. Der Übergang von gitarrenverstärktem Krautrock hin zu Electronica-Anfängen macht auf das zahlreiche Publikum vor der Forest Stage Eindruck und vor allem gute Tanzlaune. Repetitive Riffs und Keyboard-Loops bringen MICHAEL ROTHERs große musikalische Leistungen im Übergang zwischen analog zu digital auf den Punkt.
MICHAEL ROTHER
Den Freitag schließen NEUTRAL MILK HOTEL ab, die sich hipsteraffin lange Bärte wachsen ließen, ziemlich lange, und ihren beschwingten Rock mit Posaunen und viel Percussion würzen. Erneut taucht die Frage auf, warum sogenannte Indie-Bands stets leicht schrägen Gesang zu doch recht passabler Musik bieten müssen?
Der Samstag beginnt mit der ukrainischen Folk-Combo DAKHABRAKHA, die auf der Experimental Stage beeindrucken. Zwei Frauen singen in der Landessprache, unterstützt von Männergesang und traditionellen Instrumenten. Zum frühen Abend wirken sie etwas verloren, doch das Zelt ist erneut sehr gut gefüllt und "experimentell" bedeutet auf dem Festival ganz sicher nicht fehlendes Publikumsinteresse.
Nicht weit von der Experimental Stage liegt die von der MBank gesponserten MBank Stage, auf der nun mit Rufen und Vorapplaus die Kalifornier DEAFHEAVEN erwartet werden, die eine Neuauflage des norwegischen Black Metals der 1990er versuchen, dabei jedoch eher den Eindruck des mangelnden Eigeninputs hinterlassen. Und wenn man schon schnellen Black Metal spielt, gäbe es für den DEAFHEAVEN-Gitarrist sicher bessere Shirts von polnischen Bands als BEHEMOTH, die selbst auch eher eine Art Show-Black Metal auf ihren Platten präsentieren. DEAFHEAVEN waren letztlich eine von Hipster-Medien gepuschte Band mit Black Metal-Sound.
In starkem Kontrast hierzu die filigrane Stimme von CHELSEA WOLFE, die zumindest artworttechnisch immer wieder vom Extreme Metal inspiriert scheint. Musikalisch bietet sie atmosphärisch dichte, leicht in Gothic, aber auch Songwriter-Female Voice tendierende Stücke, inklusive Violinisten. Die Videoshow trägt zur Stimmung noch weiter bei.
Den Höhepunkt des gesamten Festivals bieten im Anschluss jedoch THE NOTWIST. Eine bestrickende Show von fünf Musikern, inklusive Analog-Drums und schreddernden Hardcore-Gitarren, die zuweilen an KRAFTWERK, dann wiederum an Post-Hardcore erinnert. Ein Hochgenuss, gerade auch auf einem Festival, denn THE NOTWIST bringen es fertig, Open Air zum Club werden zu lassen, so dicht tönen die Songs von der Bühne.
THE NOTWIST
Auf derselben Stage spielen am selben Abend THE JESUS AND MARY CHAIN – altgediente Rocker mit einer routinierten Performance, aber auf Dauer etwas monoton. Die Bandauswahl auf dem OFF 2014 kennt keine Scheuklappen und es ist zu wünschen, dass mehr Festivals in Europa diese Vielfalt an Musikstilen auf einem Areal nicht nur dulden, sondern zum Inhalt ihres Programms machen.
THE JESUS AND MARY CHAIN
Der Sonntag ist sonnig und heiß. PERFECT PUSSY rennen hektisch über die Bühne, Frontfrau Meredith Graves' Kopf läuft rot an und die Dissonanzen erweitern den Horizont der Zuschauer. Noise ist generell auf dem OFF Festival eine nicht zu unterschätzende Größe. Dieser Faktor belebt das Programm, doch ist er auch der Vorliebe des Rezensenten geschuldet.
PERFECT PUSSY
MERKABAH bieten verrückten Jazz-Grind oder Grind-Jazz, ein Saxofon kommt zum Einsatz und die digitalisierende Videoshow erinnert nicht von ungefähr an das große Vorbild JOHN ZORN. Dieser Avantgardist hätte auch gut nach Katowice gepasst. Stattdessen ANDREW W.K., der schnell vertreibt, weil erstens Regengüsse auftauchen und zweitens die Shouts zu den stampfenden Dance-Beats doch mit der Zeit auf die Nerven gehen, wenn er auch im weißen Anzug erscheint.
Man sollte nicht das Land vergessen, in dem das OFF Festival dieses Jahr bereits zum neunten Mal stattfindet, soll heißen: Es treten auch genügend heimische Acts auf. VARIÉTÉ am Samstag zum Beispiel, und sie spielen eindrücklichen Prog Rock mit polnischen Texten, technisch auf hohem Niveau, ohne zu speziell zu werden. Oder KRÓL am Sonntag, der ebenfalls Texte in der Muttersprache bietet, dazu eine Art sanften Alternative Rock, aber ohne in Crossover-Versuchung zu verfallen.
Die Simultanität der Pop-Welten oder die Existenz von Paralleluniversen beweisen ein bereits genannter polnischer Act und ein japanisches Trio: ARTUR ROJEK bietet Konfetti-unterstützten 1980 Jahre TV-Pop mit schnulzigen Texten (laut Aussage einer polnischen Begleiterin) und NISENNENMONDAI generieren mit Analog-Instrumenten wie E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug einen technoiden Beat, der zum Abtanzen einlädt, uns aber nach drei, vier Stücken verstört und zu SLOWDIVE flüchten lässt. Dort türmen sich sphärische Gitarren auf, Shoegaze-Einflüsse mischen sich in die Songs. Epischer Rock mit gewissem Kultstatus.
NISENNENMONDAI
Diese analoge Gemählichkeit zerstören die zwei Typen von FUCK BUTTONS mit einem Electro-Clash und Techno-Geballer von der Forest Stage. Das Duo sucht nicht nach "höherwertigem" Sound – Feuersalven sollen ausgeworfen werden. Einem polnischen Kollegen wird das zu viel und er sucht GLENN BRANCA auf, der an diesem Tag die Experimental Stage kuratiert und zur späten Stunde auch selbst spielt. Die Sozialisation des Rezensenten verhindert die Erkenntnis, dass GLENN BRANCA Bands wie SONIC YOUTH maßgeblich initiierte, indem er als Tutor auftrat.
FUCK BUTTONS
Bis zu einem gewissen Grad wird der journalistische Festivalschreiber zum Musik-Analphabeten. Das dicke Festival-Buch hat er erst nach der Action gelesen. Der Overkill fordert erste Opfer. Kurz nach dieser Episode treten wieder zwei Welten des OFFs gegeneinander an: BELLE AND SEBASTIAN mit schönen Melodien, mit dem üblichen, etwas schiefen Gesang und einer legendären Hitlist im Gepäck.
BELLE AND SEBASTIAN
Im Trójka-Zelt hingegen 65DAYSOFSTATIC aus dem britischen Sheffield. Vier Musiker bewegen sich enthusiastisch und energisch zu dem Mix aus Electronica und Post-Rock-Gitarrenwänden. Alle vier können zeitgleich Synthesizer-Desks bedienen, was zur Folge hat, dass hier ein filigraner Sound entsteht. Sie spielen eine Stunde, immer wieder von frenetischem Applaus begleitet. Der Geheimtipp des Festivals. Schade nur, dass die Aufmerksamkeit zwischen diesen beiden wichtigen Acts geteilt werden musste. Danach war für dieses Jahr Zapfenstreich, obwohl die Besucher noch bis 04:15 Uhr auf den kleinen Bühnen unterhalten werden konnten. Die Fülle an Programm machte es nicht leicht, alles mit der gebührenden Aufmerksamkeit verfolgen zu können. Schade auch, dass die Literatursektion (aufgrund der Sprachbarriere) nur für die Einheimischen von Interesse sein konnte.
Als Fremder im zweifachen Sinne (national und musikalisch) erschloss sich dem Rezensenten nicht wirklich, weshalb das OFF für die Kreise des Hipstertums von besonderem Interesse sein soll. Sicher, manche Acts sind schon ziemlich Pop im Sinne von ironisch und Metaebene. Andere wiederum waren naiv wie eh und je in ihren Genres üblich. Die Vorauswahl wie auch die Zufallsbekanntschaften haben überzeugt, im positiven oder negativen Sinn, aber langweilig war es ganz sicher nicht.
# # # Text: Dominik Irtenkauf, Fotos: Alina Strzempa # # #
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