Blasts from the past! Jamie Delano lag 1997 mit seinem fiktiven Blick in die Zukunft teils gar nicht so weit daneben...

Was für die kontinentaleuropäischen Verhandler im Brexit-Poker wohl ein veritabler Horror gewesen wäre, erweist sich für deutschsprachige Freunde gehobener Comic-Unterhaltung als Glücksgriff – nämlich eine starke britische Schlagseite. Und zwar jene, die das Verlagsprogramm von Josua "Josch" Dantes von Beginn an aufweist, wenn wir etwa an
"Sláine",
"Gravel",
"Disenchanted" oder die im Aufbau befindliche "Neil Gaiman Bibliothek" denken. Jamie Delano, Kennern von Vertigo selbstverständlich ein geläufiger Name, bekommt nun nach dem dreiteiligen
"Outlaw Nation" einen weiteren Slot im Portfolio zugestanden. Die 1997/98 beim besagten (und 2019 schmählich in den Ruhestand verabschiedeten) Edel-Sublabel von DC veröffentlichte zwölfteilige Serie erscheint hierzulande in Form zweier von Übersetzer Jens R. "Was weiß der Mann eigentlich nicht?" Nielsen gewohnt kompetent betreuter Hardcover-Sammelbände.
Vier unterschiedliche Zeichner setzten dabei ebenso viele Erzählungen um, die jeweils drei Hefte umfassten und wenig erbauliche Zukunftsszenarios boten – wenig erbaulich jetzt nicht im Sinne der Qualität, denn diese dürfte nicht nur zynischen Zeitgenossen, Zweckpessimisten oder Teilzeitmisanthropen anregende Impulse verschaffen. Die Schnittmenge sollte also locker ausreichen, um jedermann und jederfrau mit zumindest ansatzweise negativen Gedanken über die Richtung, in die unsere Welt steuern könnte (oder bereits steuert), zufriedenzustellen, so seltsam das vielleicht klingen mag. Mitunter ist erstaunlich, dass einige der von Mr. Delano 1997 skizzierten Entwicklungen gar nicht so weit von unserer Realität 2020 entfernt sind – etwa die allumfassende Verfügbarkeit von Drogen, Sex, Schönheit, Alterslosigkeit und sogar Nachwuchs nach Maß. Entsprechende Geldmittel vorausgesetzt natürlich.
Im Fall von "Lebensgier", der Auftaktgeschichte, ist es jedoch im Corona-Zeitalter natürlich ein Virus, der wohl den größten Aha-Effekt generieren dürfte. Besser gesagt die Viren, denn zahlreiche von ihnen kursieren in New York City, dessen Reiche peinlich darauf bedacht sind, sich vom verelendeten Rest der Bevölkerung abzuschotten. Alex Woychek ist ein Grenzgänger zwischen beiden Welten, der sich mit dem Verkauf mittlerweile verbotener Sexheftchen durchschlägt und erst recht auf alles und jeden (mit Ausnahme seiner alten Flamme) zu scheißen beginnt, als er sich einen der zirkulierenden Erreger einfängt. Pikanterweise befeuert der allerdings die "Lust For Life", so der an IGGY POP gemahnende Originaltitel, der sich (zunächst) so gar nicht mit der zunehmenden Lebensmüdigkeit eines desillusionierten 70-Jährigen vereinbaren lässt.
Eine Prophezeiung, die trotz der hier geschilderten und aktuell gar nicht mehr so abwegigen Quarantänepolitik samt damit einhergehender Beschneidung der Grundrechte allerdings nicht eingetroffen ist, stellt die Übernahme der Macht in den USA durch eine (Zitat) "intellektuell-feministische Präsidentendynastie" dar. Viele hätten sich das wohl sogar als geringeres Übel angesichts des (schon vor dem Coronavirus grassierenden) Trumpismus gewünscht, aber näher an der Realität, was religiöse Eiferer und Fundamentalismus betrifft, ist da schon das Regierungssystem, unter dessen Knute sich die Protagonistin von "La Tormenta" wähnt. Jack Atlanta, Privatdetektivin und Tochter von Alex Woycheck, macht sich im von den Vereinigten Staaten abgetrennten und um das Kuba der Post-Castro-Ära erweiterten Nuevo Florida auf die Suche nach einem vermissten Mädchen. Nicht ungefährlich angesichts der Verbindungen der für ihr Verschwinden Verantwortlichen in höchste Kreise des herrschenden katholischen Regimes. Warren Pleeces düsteres Artwork passt zum Krimisetting ebenso gut wie Frank Quitelys gewohnt verschrobener Strich zum Auftakt. Be(un)ruhigend lesenswert!