...renoviert und still alive...
Am neunten Februar war es wieder einmal soweit. Die Wegbereiter des Industrialsounds und Vorbilder von zig Bands, darunter NINE INCH NAILS und MARILY MANSON, bringen nach vier Jahren Pause ein neues Album heraus. Die Rede ist natürlich von den exzentrischen Herren rund um Blixa Bargeld, den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN aus Berlin.
Ob das neue Werk „Perpetuum Mobile“ an frühere Meilensteine wie z.B. „Zeichnungen Des Patienten O.T.“ oder „Tabula Rasa“ anschließen kann wird sich noch weisen.
Obwohl „die Neubauten schon lange nicht mehr einstürzen“, wie Gründungsmitglied FM Einheit bei seinem Ausstieg aus der Band 1997 meinte, sind Blixa Bargeld und Co. nach wie vor ein Garant für sich erfrischend vom Alternative-Formatradio abhebende Soundkollagen.
Von der noisigen Experimental-Performancegruppe die die Band Anfang der Achtziger war, und als bei NEUBAUTEN-Gigs noch die Bühne abgefackelt wurde, wandelten sie sich in den neunziger Jahren nach dem Abgang von Noise-Mastermind FM Einheit von gewollt unhörbaren Lärmkonstrukten immer mehr hin zu richtigen Songs mit klaren Strukturen und sogar Melodien. Therapeuten würden angesichts dieser Geschichte sicherlich eine Idealisierung des ursprünglichen Feindes diagnostizieren. Denn liest man frühe Interviews mit Blixa Bargeld, wollte dieser ja ursprünglich Musik zerstören, da er sie als systemerhaltendes Opium fürs Volk und somit als verachtenswert ansah.
Mittlerweile meint Herr Bargeld ja, das System des Musikestablishments auch von innen zerstören zu können. Die Einstürzenden Neubauten als Selbstmordattentäter im Alternative-Mainstream-Land. Der nächste Anschlag folgte nach vier Jahren konspirativer Pause mit der Veröffentlichung ihres bislang neunten Albums „Perpetuum Mobile“. Die Idee hinter dem neuen Album war, unabhängig von Plattenlabels und traditionellen Vertrieben eine Platte zu produzieren. Dazu wurde im August 2002 eine neue Internetplattform (www.neubauten.org)
gegründet, wo jeder und jedem der bereit war die Albumproduktion mit 35 US-Dollares zu unterstützen eine neue, niemals im Handel erhältliche Sonderauflage des neuen Albums geboten wurde.
Darüber hinaus gab’s für die NEUBAUTEN-Supporter exklusiven Zugang zu Live-Übertragungen der Aufnahmesessions im Internet, und die Möglichkeit aktiv am Schaffungsprozeß von „Perpetuum mobile“ mitzuwirken. Dies war im Rahmen der Übertragung der Aufnahmesessions mittels Chat mit den Bandmitgliedern möglich. Laut Blixa Bargeld war dieses Feedback „überaus wertvoll (...), um die Platte zu machen und zu beenden. Normalerweise dauert das (...) viel länger.“
Leider scheiterte das Projekt letztendlich an der Zahl der Unterstützer, und so wurde ungefähr in der Mitte der Studiosessions klar, das die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN allein ohne die Hilfe einer Plattenfirma nicht in der Lage sein würden eine internationale Veröffentlichung des Albums zu organisieren. Und in diesem Falle hätte es auch mit Sicherheit keine internationale Tour gegeben. Nach einiger Zeit des Suchens, kehrte man wieder in die sicheren Gefilde des zuvor verlassenen Mute-Labels zurück, bei dem unter anderem auch NICK CAVE und DEPECHE MODE unter Vertrag sind.
Bei Mute zu unterschreiben, bedeutete für die NEUBAUTEN natürlich auch mehr Arbeit. Denn die Plattenmanager hatten wenig Interesse daran, das gleiche Album zu veröffentlichen, das auch die Onlinemembers der Neubauten erhalten sollten. So entschied man sich für eine Splittung des aufgenommenen Materials in zwei Alben, die sich aber dennoch zu ca. 30 Prozent überschneiden.
Ob das neue Album (oder besser die 2 Alben) an Meilensteine wie „1/2 Mensch“ auf der einen Seite, und „Ende Neu“ auf der anderen, rauschfreien, Seite anschließen kann wird sich weisen. Doch sind die NEUBAUTEN ein Garant für Innovation, was sie seit Beginn ihrer Karriere 1980 laufend unter Beweis stellten. Grenzen überschreiten und Mauern durchbrechen, verkrustete alte Strukturen zum Einsturz bringen. Schlußmachen mit dem Althergebrachten, und der Vernichtung von Traditionen im Songwriting machten die Neubauten zu dem was sie heute sind – nämlich zu Revolutionären. Und das noch dazu erfolgreich, ein Faktum das besonders erwähnenswert scheint, will man einen Vergleich zu politischen Revolutionären, oder solchen die’s gerne geworden wären, ziehen.
Am Anfang noch als GENIALE DILETTANTEN unterwegs, brachte ihnen der Einsturz der damals neu gebauten Berliner Kongresshalle 1980 den Bandnamen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN ein, der in jeder Hinsicht auf den Stil der musikalischen Geisterfahrer um Blixa Bargeld und FM Einheit passte. Bald darauf waren die Neubauten das Synonym für extaktisch-ausufernde Live-Performances, die eher an Voodoo-Rituale als an Konzerte im herkömmlichen Sinne erinnert haben müssen. Einkaufswägen, Kreissäge und Bohrmaschine statt Schlagzeug, Gitarre und Bass. Brennende Bühnen statt Background-Sängerinnen. Die Performances der Neubauten endeten oft schmerzhaft für alle Beteiligten. Nachzusehen in der preisgekrönten Arte-Dokumentation „Hör mit Schmerzen“
Doch nach dem Einstieg Blixa Bargelds bei NICK CAVE AND THE BAD SEEDS und dem Herunterkommen von ihrem jahrelangen Drogentrip wurden die NEUBAUTEN ruhiger.
Hier noch ein paar Tipps für die Leute, die gern noch mehr über die Exzesse bzw. Anfänge der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN wissen wollen:
Zum Hören:
Kollaps
Zeichnungen Des Patienten O.T.
1/2 Mensch
Fünf Auf Der Nach Oben Offenen Richterskala
haus Der Lüge
Tabula Rasa
Ende Neu
Silence Is Sexy
Perpetuum mobile
Zum Lesen:
Geniale Dilettanten, ein Manifest der avantgardistischen Berliner Szene zu Anfang der 80er Jahre. Mit Texten von "Die tödliche Doris", "Sprung aus den Wolken", Illustrationen von Tabea Blumenschein...
"Geniale Dilettanten" von Wolfgang Müller ist im Merve Verlag erschienen. Mehr Infos und einen Online-Bestellbogen finden sie auf der Website des Verlags.
Hör mit Schmerzen - Listen with pain, 17 Jahre genialen Dilettantismus` der Einstürzenden Neubauten (1980 - 1997) sind in diesem Buch dokumentiert.
Ein Fotoalbum mit Songtexten, Interviews und Essays von Freunden und Wegbegleitern wie Nick Cave, Chris Bohn, A. Hilsberg..
Stimme frißt Feuer, eine Sammlung von Texten und Gedichten von Blixa Bargeld, eines der 100 besten deutschen Bücher der 80er Jahre. Ein Buch über Leidenschaft, Neurosen und deutsche Lyrik.
Dieses Buch ist im Merve Verlag erschienen.
Tape Delay, dieses Buch ist eine echte Referenz mit zahlreichen Interviews mit Künstlern wie Nick Cave, Sonic Youth, The Fall, Test Dept, Psychic TV, New Order, und ... einem zweiteiligen Interview mit den Einstürzenden Neubauten,
Tape Delay von Charles Neal ist bei S.A.F (einem englischen Verlag) erschienen und kann online bestellt werden.
233° Celsius – Ein Feuerbuch, das kompensierte Endprodukt einer Performance: Im Rahmen der Transmediale 1997 verbrannten Blixa Bargeld und Kain Karawahn 7 000 Bücher. Sie retteten einzelne Seiten aus dem Feuer, projizierten darauf noch leserliche Worte und Passagen auf eine Leinwand und ersetzten sie ständig durch neue Seiten. Im "Feuerbuch" haben sie die geretteten Texte zusammengestellt.
Dem Leser ist es überlassen, fehlende Wörter nach Belieben zu ergänzen oder sich aus den Bruchstücken einen Überblick über den Inhalt zu beschaffen. Außerdem im "Feuerbuch" zu finden: "233° Celsius - eine autobiographische Erzählung" von Blixa Bargeld und Essays von Yoko Tawada ("Feuer der Buchstaben") und Kain Karawahn ("Feuer und Kommunikation").
233° Celsius – Ein Feuerbuch ist im Konkursbuchverlag erschienen und kann über dessen Website online bestellt werden.
Schauen kost’ nix:
www.neubauten.org
www.blixa-bargeld.com
Thomas Peterthalner