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The Warcraft Civilization: Social Science in a Virtual World

William Sims Bainbridge unterzieht das Universum von "World of Warcraft" einer eingehenden Analyse. Dabei wird deutlich, dass auch die digitalen bzw. virtuellen Spielwelten am Ende aus sozialen Interaktionen bestehen.

(C) MIT Press / The Warcraft Civilization / Zum Vergrößern auf das Bild klickenAbstract

"World of Warcraft" (WoW) ist ein Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) bestehend aus hunderten parallel zueinander existierenden Bereichen, so genannten "realms", welche simultan von mehreren tausend Teilnehmern bzw. deren digitalen Abbildern ("avatars") bevölkert werden. Spieler erleben aus der Schulter­perspektive mit ihren digitalen Helden zahlreiche Abenteuer ("quests"), erforschen die Spielwelt namens Azeroth, erlernen verschiedenste Berufe, betreiben Handel und erklimmen mit den gewonnenen Erfahrungen ("skillpoints") Schritt für Schritt, Level für Level, die Erfahrungs- und Avatar-Karriereleiter ("levels"). Bainbridge verbrachte im MMORPG mehr als 2.300 Stunden, hauchte 22 Avataren digitales Leben ein und stürzte sich mit seinen Alter Egos in zahlreiche Abenteuer. Bainbridge liefert eine durchaus lesenswerte Geschichtensammlung rund um Rassen, Religion und Wirtschaft in "World of Warcraft", welche in ihrer Gesamtheit als interessanter Forschungs­beitrag zum "Warcraft"-Kompendium gezählt werden kann, der im Untertitel mit "Social Science in a Virtual World" erhobene Anspruch wird jedoch nicht erfüllt. Der vom Autor eingeschlagene narrative Weg be­schreibt den Rahmen für Kommunikations- und Sozialdynamik in MMORPG, verfehlt jedoch den Kern, die Ultima Ratio: Ohne Spieler gibt es kein Spiel, vor allem kein "end­game", dessen Lebenselixier direkt aus sozialer Interaktion gespeist wird.

 

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"World of Warcraft" (WoW) ist ein Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG), dessen wirtschaftliche Signifikanz seit der Veröffentlichung in den Jahren 2004/2005 bis heute angesichts vieler Millionen zahlender Abonnenten unbestritten ist. Auch der populärkulturelle Einfluss des MMORPGs wird angesichts der unterschiedlichsten Medien-Reproduktionen und im Hinblick auf zahlreiche "Medien-Referenzierungen" deutlich: Brettspiele, Comics, Romane sowie unzählige Zitate in Kino- und Fernseh­filmen, TV-Serien sowie TV-Werbespots geben ein­drucksvoll Zeugnis von der immensen medialen Resonanz.

 

Für eine sinnvolle Betrachtung des sozialen Potenzials empfiehlt sich ein Blick auf Struktur und Aufbau des Online-Games. "World of Warcraft" ist nicht bloß ein Fantasy-Rollenspiel-Ableger, welcher im von Entwicklerstudio Blizzard Entertainment ins Leben gerufenen Warcraft-Franchise angesiedelt ist, es ist nicht bloß eine virtuelle Welt. "World of Warcraft" besteht aus vielen hunderten, voneinander strikt getrennten Bereichen ("realms"). Reduziert man das Spiel auf die technische Komponente, so können erwähnte Bereiche mit separaten Computern oder auch Internetservern verglichen werden. Auch ist sicherlich die Metapher von "Recheneinheiten" zulässig, welche die Instanzen, sozusagen als die "Bretter, die die Welt von WoW bedeuten", aufrechterhalten. Wichtig dabei ist der Hinweis, dass Spieler grundsätzlich lediglich mit jenen Spieler interagieren können, die sich im selben Bereich bewegen. Zwar können User multiple "realms" betreten, einen nach dem anderen, jedoch ist Charakter-Interaktion allgemein lediglich mittels verschiedener, voneinander unabhängiger Spielcharaktere (pro Spielkonto ist maximal ein Avatar möglich) vorgesehen. Einzige Ausnahme: gegen eine vom Betreiber festgelegte Gebühr ist die Avatare-Migration zwischen den "realms" möglich.

 

Eine ähnlich konsequente Trennung tritt auch bei Williams Sims Bainbridges "The Warcraft Civilization" ans Tageslicht. Nahezu sämtliche Kapitel werden vom Autor durch eine Erzählung aus den Augen eines Avatars eingeleitet. Und zwar handelt es sich bei allen im Buch behandelten Avataren um jene, denen Bainbridge zu Forschungszwecken Leben einhauchte. Die einleitenden Narrationen rund um die Spielfiguren drehen sich folglich um den – aus der Imagination von Bainbridge entstammenden Werdegang des jeweiligen digitalen – Alter Egos und spiegeln persönliche Einstellungen und kulturelle Normvorstellungen wieder. Somit projiziert der Autor unterschiedliche Charakterzüge und Grundhaltungen auf seine Spielfiguren. Im Zuge dessen eröffnen sich interessante, soziokulturelle Einblicke hinsichtlich des Selbst- und Fremdbilds des jeweiligen Avatars. So werden des Öfteren die aus der Brille des Spielhelden betrachtete Einstellung zur eigenen Identität, die Haltung zu anderen Rassen und die allgemeine Kontextualisierung im Warcraft-Universum ("lore") behandelt. Mit dieser für eine wissenschaftliche Studie sehr unkonventionellen Herangehensweise gelingt es dem Autor viele Facetten des reichhaltigen "Warcraft"-Universums zu beleuchten: Religion, Wirtschaft, Bildung – um nur einen kleinen Auszug zu nennen.

 

So erfrischend dieser Ansatz klingt, im Rahmen der praktischen Forschungs-Umsetzung sowie in Folge der Rezeption ergibt sich ein durchwachsenes Bild. Tatsächlich setzt sich ein Großteil des Buches aus einer Geschichten-Sammlung zusammen, welche mehrheitlich auf Ich-Erzählungen der jeweiligen Avatare beruht. Wir erinnern uns: sämtliche digitalen Alter-Egos hat Bainbridge ja zu Forschungszwecken erstellt. Und mit deren Zuhilfenahme hat er in über 2.000 Stunden Spielzeit Feldforschung betrieben.

 

Trotz des beachtlich investierten Einsatzes wird die Studie mit dem im Untertitel "Social Science in a Virtual World" erhobenen Anspruch kaum gerecht. Am augenscheinlichsten ist der Umstand, dass sich lediglich wenige Aspekte der Studie um Darlegung und Interpretation von Forschungsdaten drehen. Dieser Kritikpunkt wiegt im Kontext des bereits erwähnten Kriteriums – der Anspruch von "Sozialwissenschaftlichkeit" – umso schwerer, da eine deskriptive Abhand­lung von Avatar-Entwicklung und Erfahrungsaufstieg (aktuell ist die höchste Stufe auf der Erfahrungs-Karriereleiter im MMORPG der Level 90) sowie deren kontextuelle Einbettung vor dem Hintergrund der in "World of Warcraft" vorkommenden Rassen und Klassen nicht zwingend mit "Social Science in a Virtual World" gleichzusetzen ist.

 

Ein weiteres Manko kann im vom Autor selbst definierten Forschungsrahmen gesehen werden. Bainbridge limitiert seinen Blick auf die spielerische Anfangsphase bei "World of Warcraft". Seine Aufmerksamkeit ist auf das Erklimmen der Charakter-, Karriere- bzw. Erfahrungsleiter beschränkt. Tatsächlich ist es jedoch das "endgame", welches im Rahmen der aktiven und regelmäßigen Teilnahme von Spieler im Zuge von Online-Spiele-Gemeinschaften – in "World of Warcraft" wird der Begriff "Gilde" verwendet – Rückschlüsse auf soziale Macht­dynamiken zulässt. Die Studie behandelt die vom Autor in Gilden gemachten Erfahrungen, im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung jedoch lediglich am Rande. (vgl. Bainbridge 2008: 127–137) Es ist jenes "endgame", das kaum zur Sprache kommt, obwohl es das größte Potenzial für "social science" in petto hat. Denn gerade jene Spielaufgaben, welche gemeinsam im Verband einer gut organisierten Spiele-Gemeinschaft gemeistert werden müssen (im WoW-Jargon werden solche Herausforderungen mit "raids" betitelt), sind Dreh- und Angelpunkt von sozialer Interaktion und Machtdynamik. Zugegebenermaßen streift Bainbridge das soziale Potenzial von "World of Warcraft" mancherorts indem er hin und wieder überaus interessante Exkurse unternimmt – beispielsweise die denkwürdige Erwähnung von erotischen Spielsituationen in "World of Warcraft" – in den mehr als 2.000 Spielstunden konnte er lediglich 2 Vorkommnisse mit "erotischer Interaktion" beobachten: "In my 2,300 hours inside WoW, I recall seeing only two clear examples of erotic behavior between players. By accident, my character embarrassed a man and woman in an upstairs room at an inn, by entering when they were apparently about to begin a passionate moment. Another time, a character came upon embracing amid the trees behind the Goldshire Inn. In both cases, the couples were human." (Bainbridge 2008: 211) Dennoch verleiht die Abwesenheit einer zusammenhängenden und plausiblen Analyse von Spielervereinigungen bei "World of Warcraft" der Studie einen schalen Nachgeschmack.

 

Während die Erzählung der vielen Geschichten rund um den von Bainbridge gespielten Avataren durchaus gute Einblicke in "World of Warcraft" als tief schürfende Fantasy-Welt bieten, wird der mit dem Untertitel erhobene Anspruch von "social science" in Folge seiner unzureichenden Erfüllung schmerzlich vermisst. Mit fortwährender Lektüre verstärkt sich der Eindruck, dass Bainbridge das populäre MMORPG zwar selbst in vollen Zügen genossen hat – zahlreiche Aspekte vieler Rassen und Klassen sind ausgiebig recherchiert und dokumentiert: die Vielzahl der behandelten Avatare oder auch die für Azeroth spezifischen Facetten –, aber das selbst definierte Untersuchungsziel, die soziale Dynamik von Online-Games herauszuarbeiten, auf der Strecke geblieben ist. Enthusiasmus und Einsatz können dem Autor keinesfalls abgesprochen werden, das Buch ist stellenweise wirklich fesselnd. Dennoch liegt es nahe, dass sein Forschungsansatz einem grundlegendem Missverständnis unterlegen ist – und zwar einerseits in einem fehlgeleiteten Anspruch an "World of Warcraft", andererseits in einer missverständlichen Grundauffassung von einem funktionierenden Online-Rollenspiel: Denn ein an sich perfektes MMORPG mit solider Spiel-Mechanik, abwechslungsreichen Aufgaben und reibungslos funktionierender künstlicher Intelligenz, kann ohne "endgame", welches von der sozialen Dynamik und von Online-Spiele-Gemeinschaften lebt, nicht gedeihen.

 

Der Kreis schließt sich: mit einem auf Avatar-Narration fokussierten Forschungsblick "passieren" dem Autor hin und wieder – durchaus nennenswerte – Geistesblitze und es erfolgt eine (oftmals flüchtige) Beleuchtung interessanter Aspekte. Im positiven Licht sind dabei vor allem Bainbridges Ausflug und Darlegung von virtuellen Welten als exzellente Lernplattform (vgl. Bainbridge 2008: 88) oder in Hinblick auf In-Game Ökonomie, mit dem "World of Warcraft"-Auktionshaus als Herzstück, sowie kulturelle Implikationen im Hinblick auf den wirtschaftlichen Kontext: "World of Warcraft is both a game and a simulation that reinforces the values of Western market-driven economies". (Rettberg 2008, zit. von Bainbridge 2008: 143) Das wünschenswerte, fundierte Bild des "großen Ganzen" gelingt mit der Studie nicht, da eine gehaltvolle, sozialwissenschaftliche Analyse im Sinne des großspurigen Untertitels unterbleibt.

Fazit: "The Warcraft Civilization" serviert eine spannend erzählte Sammlung rund um jene vom Autor (geistig) ins Leben gerufene und in tausende Spielstunden "gelebten" Spielhelden. Bainbridge lehnt sich mit der Umsetzung seines Vorhabens – er stützt sich hauptsächlich auf die Narration rund um seine Avatare – weit aus dem Fenster und stürzt. Die Ursache: es sind nicht die digitalen Spielhelden und deren fiktionale Hintergrundgeschichten, nicht die Künstliche Intelligenz und auch nicht die Spielmechaniken, welche bei sozialen Dynamiken im Mittelpunkt stehen. Ohne aktive Spieler, ohne deren wechselseitige Kommunikation und ohne die emotionalen Beziehungen zueinander, kann von "social science" keine Rede sein. Bis auf wenige – nichtsdestoweniger sehr interessante – Geistesblitze und Exkurse entgleitet Bainbridge in der Gesamtbetrachtung des Buches das mit seinem großspurigen Untertitel ins Spiel gebrachte Forschungsziel von "Social Science in a Virtual World".

Das lediglich im Original erschienene, in angenehm einfachem Englisch verfasste "The Warcraft Civilization" ist trotz des beschränkten (Forschungs-)Blicks und einer eklatanten Fehlgewichtung des "endgames" angesichts von "social science" einen Blick wert. Das Buch ermöglicht trotz des an den Tag gelegten Tunnelblicks, trotz aller Ecken und Kanten bei Methodik und Umsetzung ein unterhaltsames Eintauchen in die atmosphärische Spielwelt und das reiche Entfaltungspotential und kann daher allen aktiven und ehemaligen "World of Warcraft"-Spieler, GameStudies Interessierten sowie Leser und Forscher gleichermaßen ans Herz gelegt werden.

 

# # # Karl H. Stingeder # # #

 

Literatur

 

Rettberg, Scott (2008), "Corporate Ideology in World of Warcraft", in Digital Culture, Play and Identity: A World of Warcraft Reader, Hilde G Corneliussen und Jill Walker Rettberg (Hg.). Cambridge, Mass.: The MIT Press, 2008, S.20

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