Ohne jede Vorwarnung wird Felix Orlov entführt. Seine Assistentin Molly wird gejagt und muss um ihr Leben fürchten.
Ein verheerendes Erdbeben hat New York im Jahr 1925 in Uptown und Downtown geteilt. Während Uptown noch immer der "Big Apple" ist, wie wir ihn kennen, handelt es sich bei Downtown nun um eine heruntergekommene Version Venedigs. Die Straßen stehen unter Wasser und jene, die zurückgeblieben sind, haben sich mit der Situation arrangiert und ihr Leben angepasst. Ruinen liegen neben bewohnten Straßenzügen, verbunden durch unzählige Brücken und Kanäle.
Die überfluteten Teile der Metropole sind die Heimat der Gesetzlosen und Vertriebenen, aber auch einiger Kreaturen, die das Licht und die Menschen meiden. Für Molly McHugh ist Downtown Heimat und Fluch zu gleich. Jeden Tag kämpft das 14-jährige Mädchen um das nackte Überleben. Dies ändert sich erst, als sie dem Illusionisten und als Medium tätigen Felix Orlov begegnet und dieser sie als seine Assistentin aufnimmt. Molly erkennt schnell, das Orlov keiner der üblichen Scharlatane ist und tatsächlich die Gabe besitzt, mit den Toten zu sprechen.
Eines Tages wird das Medium ohne Vorwarnung von Unbekannten in Taucheranzügen und mit Gasmasken entführt. Molly wird gejagt und muss um ihr Leben fürchten. Als es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt, um ihren Häschern zu entkommen, stellt sich eine beeindruckende Gestalt den Kreaturen in den Weg und beschützt das Mädchen. In der Obhut von Joe und seinem Partner Mr. Church erfährt Molly, dass die Entführung ihres Freundes Felix nur der Auftakt für eine ganze Reihe finsterer Ereignisse ist, an deren Ende womöglich das Ende der Welt stehen könnte.
Wenn man um Mike Mignolas zeichnerische Qualitäten weiß, verwundert es kaum, dass fast keine Seite ohne eine Illustration auskommt, die es einem noch zusätzlich erleichtert in eine Welt einzutauchen, die doch so sehr der unseren gleicht, aber doch eine vollkommen andere ist. Die Vorbilder, vor denen sich Christopher Golden und er verneigen, sind klar erkennbar und scheinen allgegenwärtig. Da sind zum einen die Pioniere der Pulp-Magazine, die Kriminal-, Abenteuer- und Schauergeschichten einer großen Öffentlichkeit zugänglich machten, zu denen etwa der Erfinder Conans, Robert E. Howard, zählte.
Gerade bei der Ausarbeitung der Kulisse für diesen Roman und der Beschreibung der Gegenspieler Joes blitzen die Reminiszenzen an die Großtaten dieser verkannten Gattung immer wieder auf. Dazu gesellt sich der Großmeister der Horrorliteratur, H. P. Lovecraft, dessen Cthulhu-Mythos einen großen Einfluss auf "Joe Golem und die versunkene Stadt" ausübt. Gerade wenn man sich dem Finale des Romans zuwendet, wird klar, wo die Inspirationsquellen liegen. Dies soll nicht als Vorwurf, sondern als Kompliment verstanden werden, denn nicht jeder versteht es, das Universum Cthulhus mit seinen Ideen fortzuführen. Dazu kommt eines der Schwergewichte der Detektivromane, Sherlock Holmes, der unzweifelhaft Pate für die Figur des Mr. Church stand. Ein Charakter, der wiederum die Brücke zum Steampunk spannt, wenn man sich die Lebensumstände des Detektivs und insbesondere sein Innenleben einmal näher vor Augen führt.
Bei den Figuren scheint eine Vorliebe für tragische Persönlichkeiten durch. Insbesondere Joe, ein Charakter, der um seine Vergangenheit und Zukunft betrogen wurde, ist in jeglicher Hinsicht ein tragischer Held, wenn er sein eigenes Wohl zurückstellt, um andere Menschen zu beschützen. Aber auch die anderen Handlungsträger des Buchs verbindet eine tragische Vorgeschichte. Egal ob Molly mit einer dramatischen Kindheit, die sie jeden Tag in einen Kampf ums Überleben beweisen muss, einen Mr. Church, der mit mehreren großen Feinden ringt, dem Tod und der Einsamkeit, bis hin zu einem Widersacher wie Dr. Cocteau, dem sein großer Lebenstraum auf ewig verwehrt ist.
Anlass zur Kritik bietet eigentlich nur das enorme verschenkte Potenzial vieler Figuren. Oft werden diese nur gestreift, ohne das gesamte Potenzial solch faszinierender Charaktere auszuschöpfen. Insbesondere gibt dies für die schillernde Figur des Mr. Church, ihm könnte man eine eigene Buchreihe widmen, ohne dass Langeweile aufkommen würde. All dies wäre jedoch uninteressant, wenn es dem Erzähler des Geschehens nicht gelingen würde, den Leser mit seinen eigenen Ideen zu fesseln.
"Joe Golem und die versunkene Stadt" ist trotz häufig wechselnder Handlungsorte eine stringent erzählte Geschichte, die von der ersten bis zu letzten Seite zu unterhalten weiß, adelt das Beste der Pulp-Literatur und hievt sie mit neuen, sprühenden Ideen auf ein höheres Level. Hier wird mit viel Liebe zum Detail das Werk der geistigen Väter der 1920er und 1930er Jahre fortgeführt. Ein Highlight der fantastischen Literatur.
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Publisher: Lübbe Verlag