Im wieder erschüttern Selbstmordattentate Bagdad. In letzter Minute können die Agenten des Heimatschutzes einen weiteren Anschlag verhindern und begegnen dabei einem Artefakt, das scheinbar aus einer anderen Welt stammt.
Am 9. November 2011 versinkt das Wahrzeichen Bagdads, die Zwillingswolkenkratzer, in einem Meer aus Schutt und Asche. An einem einzigen Tag fallen mehrere Tausend Menschen einem bis dato unvorstellbaren Terrorakt zum Opfer. Christliche Fundamentalisten, die sogenannten "Kreuzzügler", missbrauchen mehrere Flugzeuge als fliegende Bomben und setzten sie gegen die Wahrzeichen der Vereinigten Arabischen Staaten ein. Das Land ist wie gelähmt. Als es endlich gelingt, die Schockstarre abzustreifen, ist der Verantwortliche schnell gefunden. Für die Regierung und breite Teile der Öffentlichkeit besteht keinerlei Zweifel, dass die Schuldigen in den USA zu suchen sind, einem rückständigen und fundamentalistischen Schurkenstaat, der allgemein als Rückzugsgebiet für Terroristen gilt. Gemeinsam mit den Verbündeten Persien und Israel startet man eine Invasion, um die Initiatoren der Terrorakte zu bestrafen.
Nach acht Jahren ist es immer noch nicht gelungen, Amerika zu befrieden und auf den Weg der Demokratie zu führen. Selbstmordattentate sind an der Tagesordnung. Die Besatzungsstreitkräfte verlassen die Grüne Zone von Washington nur in schwer bewaffneten und gepanzerten Konvois. Dazu verbreitet sich ein neues Gerücht unter den "Kreuzzüglern". Die Welt, wie sie sich darstellt, ist eine bloße Fata Morgana, die der gesamten Menschheit vorgegaukelt wird. In Wirklichkeit sind die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und die USA eine Supermacht, der eine Vielzahl zerstrittener arabischer Staaten gegenübersteht. Die Fata Morgana wurde erschaffen, um die Christen für ihren Hochmut und ihre Überheblichkeit zu bestrafen. Natürlich haben sie ein großes Interesse daran, die ursprünglichen Verhältnisse wiederherzustellen. Eine Legende, die jeder Grundlage entbehrt, wie die Behörden lange Zeit glauben, doch dann tauchen plötzlich auch Gegenstände aus diesem Paralleluniversum auf, die die Geschichte der Fata Morgana untermauern.
Auch in Bagdad mehreren sich die Gerüchte und hier werden immer wieder derlei Artefakte entdeckt. Eine kleine Gruppe von Ermittlern der Bundespolizei soll im Auftrag des Präsidenten die Herkunft der Fundstücke klären, die auch über E-Bazar verkauft werden. Schnell wird klar, die Agenten sind nicht die einzigen, die ein Interesse an den Gegenständen zeigen, auch der bekannte Bandenchef Saddam Hussein und der mächtige Geheimdienst Al-Quaida mit seinem gefährlichen Chef Osama Bin Laden versuchen zu klären, was sich tatsächlich hinter den seltsamen Gerüchten verbirgt.
Der Titel ist mit "Mirage" wirklich vortrefflich gewählt, denn der neue Roman von Matt Ruff verkehrt die politischen Ereignisse nach den Anschlägen des 11. September ins Gegenteil. Wie eine Luftspiegelung entwirft Ruff eine Welt, in der ein arabischer Staatenbund, der von Nordafrika über die arabische Halbinsel bis in den Irak reicht, die einzige Supermacht des Planeten stellt. Doch der wirtschaftliche und militärische Riese ist durch andauernde Terroranschläge angreifbar geworden. Auf den ersten Blick wirken die politischen Entwicklungen für den Leser fremd, doch je tiefer man in den Text eintaucht, desto deutlicher blitzt hinter den Worten unsere reale Welt auf. Das beschränkt sich nicht allein auf die im Buch thematisierten politischen Ereignisse, sondern auch auf Gebiete wie Religion, Geschichte und Kunst. Man bewegt sich in einer scheinbar fremden Welt, die eine andere Entwicklung genommen hat als die unsere und doch ist einem vieles auf merkwürdige Art vertraut, ein Spiegel, in dem die Dominanz des Abendlandes mit der Zerrissenheit des Morgenlandes die Plätze tauscht.
Die Vereinigten Arabischen Staaten gelten ebenso wie der Islam als fortschrittlich und weltoffen, während Amerika und Europa ein Haufen zerstrittener Dritte-Welt-Länder sind, in denen die Menschen unter den Repressalien fundamentalistischer Regime leiden. Um sich in dieser Welt besser zurechtzufinden, stellt der Autor dem Leser die Bibliothek von Alexandria an die Seite, die bestimmte Personen, historische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen näher betrachtet und verständlicher macht. Dabei zeigt sich, dass Ruff seine Veränderungen der Realität nicht allein auf die Ereignisse nach dem 11. September beschränkt, sondern bereits mehrere Jahrzehnte zuvor erste Korrekturen vornimmt. Israel liegt nicht im Nahen Osten, sondern seit Ende des Zweiten Weltkrieges im nördlichen Teil Deutschlands, von dessen Südhälfte seit dem Sechs-Tage-Krieg große Teile von Israel besetzt sind.
Hier zeigt sich, mit welcher Detailfreude Ruff sein Paralleluniversum gestaltet. Neben den übergeordneten politischen und historischen Geschehnissen auf beiden Seiten der Fata Morgana und den Hintergründen ihrer möglichen Entstehung verzahnt er diese mit den persönlichen Schicksalen seiner Hauptfiguren, den drei Agenten Mustafa, Amal und Samir. Ihre persönlichen Schicksale sind alle mit den Attentaten des Jahres 2001 verkettet und helfen ebenfalls, sich in der fremden Welt zu orientieren.
In "Mirage" werden Bestandteile unterschiedlichster Genres wie Thriller, Krimi, Märchen, Satire und Fantasy zu einem bunten Cocktail gelungener Ideen, garniert mit vielen Anspielungen auf das aktuelle Zeitgeschehen seit dem 11. September, zusammengerührt. Der Leser wird mitgenommen auf eine märchenhafte Reise in einen Orient, der gefühlt nicht allzu weit vom tatsächlichen Vorbild entfernt liegt, einem aber doch immer wieder wie ein verwunschener Ort aus tausendundeiner Nacht daher kommt.
Der Schreibstil ist flüssig und die vielen originellen Ideen schaffen es mühelos, den Leser gefangenzunehmen und zu begeistern. Lediglich im letzten Drittel des Romans verliert die Geschichte ein wenig an Fahrt und der Motor gerät ins Stottern. Mit dem Erscheinen des Dschinns, einer mythischen Figur aus der orientalischen Sagenwelt, geht der Handlung ein wenig ihre Zielstrebigkeit verloren. Dazu kommt ein Schluss, der sicherlich einige Leser etwas ratlos und vielleicht auch enttäuscht zurücklässt. Bis dahin agiert Ruff in Höchstform, präsentiert der geneigten Leserschaft eine der spannendsten und kreativsten Geschichten aus einer möglichen Parallelwelt und schafft es dabei ohne Probleme, einen neuen Blickwinkel auf ein historisches Ereignis zu öffnen, das wohl wie kein zweites das Leben von Millionen Menschen nachhaltig veränderte.