Was verbirgt sich hinter den finsteren und abweisenden Mauern von Aswarby Hall? Der Waisenjunge Stephen erfährt am eigenen Leib, welch dunkles Geheimnis auf dem Anwesen lauert.
Stephen sieht einer ungewissen Zukunft entgegen. Nach dem Tod seiner Eltern verschlägt es ihn zu einem Vetter Mr. Abney auf dessen Landsitz nach Aswarby Hall. Abney ist bereit seinen kaum bekannten Verwandten aufzunehmen und unter seinem Dach zu beherbergen. Doch Aswarby Hall ist kein warmer und gemütlicher Ort. Abney lebt äußerst zurückgezogen und meidet den Kontakt mit den Nachbarn, seine ganze Aufmerksamkeit gilt seinen Büchern und Studien. So verwundert es kaum, dass in den angrenzenden Dörfern nicht eben wenige Gerüchte über den über die Maßen großen und bleichen Mann kursieren. Manche glauben er widme sich den dunklen Künsten und stände mit Satan im Bunde. Niemand bis auf das Hauspersonal möchte etwas mit ihm zu schaffen haben.
Auch das Haus selbst ist Gegenstand so manchen Gerüchts. Viele glauben dass es in dem Gemäuer spukt. Zunächst tut Stephen das Gerede der Menschen als bloßes Geschwätz ab, auch wenn sein Vetter durchaus sonderbar erscheint. Doch das ändert sich, als es auf Stephens Erkundungsgängen durch das Haus zu einigen unheimlichen und verstörenden Begegnungen kommt. Sind die Geschichten doch wahr? Gibt es tatsächlich Geister auf Aswarby Hall, die hier ihr Unwesen treiben? Noch ahnt der Junge nicht, welch schreckliches Geheimnis tatsächlich hinter den Mauern des Hauses verborgen liegt und dass er sich bereits in Lebensgefahr befindet.
Nach über 90 Folgen findet mit "Verlorene Herzen" erneut eine Vertonung von M. R. James seinen Weg ins "Gruselkabinett". Ebenso wie "Das verfluchte Haus" hat Titania Medien wieder eine Geschichte mit einer sehr düsteren Grundstimmung ausgewählt, die beinahe ab der ersten Minute greifbar wird. Auch wenn oberflächlich heitere Momente vorherrschen, scheint immer am Rande des Sichtfelds das Böse zu lauern. Bereits die Eröffnungsszene in der Kutsche stimmt auf die kommenden Ereignisse ein. Die Mitreisenden von Stephen lassen es sich nicht nehmen, den Jungen mit einer ganzen Palette von Andeutungen und Halbsätzen darauf einzustimmen, dass sein neues Zuhause keinesfalls ein gastlicher und behaglicher Ort sein wird.
Bereits hier wird dem Hörer klargemacht, dass auf Aswarby Hall das Grauen und der Tod auf den Waisenjungen warten. Daraus resultiert schon jetzt ein gehöriges Maß an Spannung. Was wird den Jungen bei der Ankunft bei seinem Vetter erwarten? Welches Grauen hat sich zwischen den Wänden des Hauses eingenistet? Trotz kurzer, eher ruhigerer Momente bauen sich die Bedrohung und die Anspannung kontinuierlich weiter auf, bis zu jenem Moment, an dem sich das Übersinnliche, als erster Höhepunkt der Geschichte, einen Weg in die Realität bahnt.
Doch damit verliert die Geschichte keinesfalls an Fahrt. Immer häufiger scheinen die Geister ihr Unwesen zu treiben und die Nähe von Stephen zu suchen. Lange Zeit bleibt für den Hörer unklar, wo tatsächlich die Gefahr für den auf sich allein gestellten Jungen zu suchen ist, was die Spannungskurve bis zum Schluss stetig in die Höhe treibt. Anstelle von durch Action geprägten Szenen wird hier Atmosphäre groß geschrieben und man sorgt so für den einen oder anderen wohligen Schauer.
Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung dürfte diese Geschichte von den damaligen Zeitgenossen als äußerst bedrohlich und verstörend empfunden worden sein, schließlich richtet sich das Bedrohungsszenario gegen ein wehrloses Kind und hat bis heute nichts von seiner beklemmenden Wirkung verloren. Dazu gelingt es James mit einem frischen noch recht unverbrauchten Hintergrund für seine Story aufzuwarten, womit er sich von der Masse anderer ähnlicher Autoren der Zeit unterscheidet.
Zudem heben sich die Geschichten von James in einem weiterem Punkt von vielen anderen Genrevertretern der viktorianischen Zeit ab: Es gelingt ihm seinen Geschichten oft einen realistischen Anstrich zu verleihen, indem er sie mit einigen historischen Fakten unterfüttert. Gerade dieses Element konnte auch in die Hörspielbearbeitung hinübergerettet werden und verleitet den geneigten Hörer dazu, mehr als nur einen Gedanken daran zu verschwenden, zu welchen Dingen unsere Ahnen in dunkler Vergangenheit in der Lage waren.
Musik spielt in diesem Hörspiel eine übergeordnete Rolle, schon alleine deshalb, weil sie weitere Strecken der Laufzeit präsent ist. Die eingesetzten Stücke dienen immer wieder zur Unterstreichung und Betonung der vorherrschenden Stimmung. So kommen die verschiedensten Musikstücke zum Einsatz. Sphärische Kindergesänge wechseln sich mit dem unverständlichen geisterhaften Wispern verschiedenster Stimmen ab, um im nächsten Moment von klassischen Arrangements abgelöst zu werden, die von melancholisch über heiter bis bedrohlich reichen. Dabei gelingt es die Atmosphäre deutlich zu verdichten und eine immer bedrohlichere Kulisse zu erschaffen. Geräusche werden, wie bei vielen Produktionen von Titania, wohldosiert und zurückhaltend, aber genau auf den Punkt verwendet. Hier klingt alles wie aus einem Guss und kann vollauf überzeugen.
Ist es möglich, die Boshaftigkeit eines Menschen nur durch seine Stimme zu erahnen, auch wenn die gesprochenen Worte eher ein Gefühl von Geborgenheit und Nähe vermitteln sollen? Uli Krohm ist dieses Kunststück in seiner Rolle als Mr. Abney zumindest auf erschreckend beängstigende Weise gelungen. Selten kann man unterschwellig das Böse so aus den Worten eines Menschen lesen wie in "Verlorene Herzen".
Eine der größten Herausforderungen für einen Hörspielschaffenden dürfte die Besetzung von Kinderrollen sein. Ein ganzes Füllhorn an Fragen erwartet hier den Produzenten. Passt die Stimme zum Alter der Figur? Ist die Stimme glaubhaft oder doch zu comicmäßige angelegt? Gelingt es dem minderjährigen Sprecher, die gestellte Aufgabe zu bewerkstelligen? Alexander Mager ist ein Paradebeispiel dafür, wie das Endprodukt aussehen kann, wenn man seine Hausaufgaben richtig gemacht hat. Mager dürfte die absolut richtige Besetzung für die Rolle des Stephen Elliott sein.
Kasper Eichel und Dorothea sind als dienbare Geister von Mr. Abney zu hören und sorgen dafür, dass beim Hörer sehr schnell das richtige Feeling für eine überzeugende Schauergeschichte der viktorianischen Zeit aufkommt. In weiteren Rollen sind Helmut Krauss, Detlef Bierstedt und Timo Niesmer als Erzähler zu hören, die ebenfalls ein Übriges tun, um "Verlorene Herzen" zu einem weiteren "Gruselkabinett"-Highlight zu machen. Die erste Episode nach dem
großen Jubiläum bringt alles mit, was man von einer guten Gruselgeschichte erwarten darf. Eine dichte Atmosphäre gepaart mit einem ansprechenden Plot und glänzend aufgelegten Sprechern. Ohne Frage eine Punktlandung!