Das viktorianische England. In der Abgeschiedenheit der Natur kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung zwischen einem sorglosen Reisenden und einem Streckenwärter der Eisenbahn.
Irgendwo in Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts. Zufällig trifft ein einsamer Reisender bei einer seiner Wanderungen auf eine Bahnstrecke. Er ist höchst erfreut, dort einem Streckenwärter zu begegnen, der unweit einer Tunneleinfahrt in einer bescheidenen Unterkunft zu wohnen scheint. Die Aussicht auf ein wenig Konversation und die Chance, einen Blick in den Alltag eines Eisenbahnbediensteten werfen zu können, erfüllt den Mann mit Euphorie und einer freudigen Begrüßung des Signalgebers. Doch der ist alles andere als erfreut über den unerwarteten Besuch, viel eher scheint sich tiefe Furcht und Verunsicherung in seine Züge gegraben zu haben. Trotz der sehr abweisenden Haltung lässt der Reisende nicht locker und versucht Kontakt zu seinem Gegenüber herzustellen.
Nach einiger Zeit gelingt es ihm tatsächlich, das Vertrauen des einsamen Bahnbediensteten zu erlangen. Bei einer angeregten Plauderei über seinen Alltag kommt das Gespräch auf abseitigere Themen. Es scheint nur zu offensichtlich, dass es sich bei dem Streckenwärter um einen Getriebenen oder gar Verfolgten handelt. Bei einem weiteren Treffen zeigt er sich endlich bereit, sich dem neugewonnen Freund zu offenbaren. Was der einsame Mann zu berichten hat ist allerdings mehr als beunruhigend. Kann es tatsächlich sein, dass er im Laufe der Jahre in der Abgeschiedenheit etwas wie das Zweite Gesicht entwickelt hat und nun von bösen Vorahnungen gequält wird?
Charles Dickens gehört sicherlich zu den relevantesten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, allerdings zählen seine Geister- und Gespenstergeschichten nicht zu den bekanntesten Vertretern in seinem Repertoire. Ein Umstand, den es zu ändern gilt, denn wie der vorliegende Titel zeigt, haben sie es durchaus verdient, ihr Schattendasein zu beenden und mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Wie viele Geschichten von Dickens ist auch diese fest im viktorianischen Zeitalter verhaftet und widmet sich einem der sicherlich zeitgenössischsten Themen des britischen Empires überhaupt, dem einheimischen Eisenbahnnetz und aller damit einhergehenden Probleme und Konflikte. So finden auch Themen wie Vereinsamung und fehlende Sozialleistungen der Angestellten am Rande ihre Erwähnung und somit steht "Der Streckenwärter" anderen Werken des Autors in nichts nach.
Die zunehmende Unruhe des Streckenwärters, der diese auch auf den Hörer überträgt, steht im Mittelpunkt. Welches Geheimnis hält er zunächst vor seinem unerwarteten Gast und dem Publikum verborgen? Eine Frage, mit der es lange Zeit gelingt, die Spannung aufrechtzuerhalten und im weiteren Verlauf noch zu steigern. Hinter dem banalen Alltäglichen tritt immer mehr das unheimliche, schwer Fassbare zutage, bis sich endlich klärt, mit welchem Grauen der Streckenwärter zu kämpfen hat. Schnell wird offensichtlich, dass die auf den ersten Blick harmlose Plauderei zwischen zwei Fremden auf ein grauenvolles Ende zusteuert. Dass die Geschichte keinesfalls einen heiteren Verlauf nimmt, deutet die musikalische Gestaltung an, die von der ersten Minute an dem Hörer suggeriert, dass es etwas im Argen liegt und die anfängliche Harmlosigkeit der Dialoge somit konterkariert. Überhaupt fallen die Klänge düster und unheilschwanger aus und unterstützen somit das ganz besondere Flair dieser Geschichte. Die Geräusche beschränken sich einmal mehr auf das Notwendige, können aber mit ihrer Glaubwürdigkeit problemlos punkten.
Immer wieder einmal gibt es Produktionen im "Gruselkabinett", die von ihrer Besetzung her wie ein Kammerspiel anmuten und vielleicht den einen oder anderen Hörer aufgrund ihrer minimalistischen Anmutung zögern lassen. Dem sei an dieser Stelle vehement widersprochen. Die Dialoge zwischen Matthias Lühn als Reisendem und Bodo Primus als Streckenwärter sind zu jeder Minute hörenswert und führen konsequent auf den Höhepunkt und den nicht zu stoppenden Schrecken zu. Beide rufen ihr großes Potential als Sprecher ab, um ihre Rollen mit Leben zu füllen und das Grauen greifbar zu machen. "Der Streckenwärter" ist ein weiterer mehr als würdiger Titel, um sich in die lange Reihe hochklassiger "Gruselkabinett"-Folgen einzureihen und den deutlichen Aufwärtstrend der letzten Einträge fortzusetzen.