Ein bisschen jugendliche Rebellion kann nie schaden, erst recht nicht, wenn die eigenen Eltern als Schurken enttarnt werden.
"Run away, run away
Run away and save your life
Run away, run away
Run away if you want to survive" ("Run Away", M.C. Sar & The Real McCoy, 1994)
Im Laufe der Jahre hat das "House of Ideas" schon viele Sublabels ins Leben gerufen, um sich neue Leserschichten zu erschließen. Sieht man vom erst 2015 zu Grabe getragenen Imprint "Ultimate Marvel" ab, war ihnen jedoch stets mäßiger Erfolg beschieden. Drei Jahre nach dem Start besagter Abteilung, die letztlich die Basis für das "Marvel Cinematic Universe" bilden sollte, versuchte man im Rahmen von "Tsunami" an ein mit Manga bestens vertrautes Publikum anzusprechen. Einer der Starttitel dieses (einmal mehr kurzlebigen) Experiments war "Runaways", das es bis 2004 immerhin auf 18 Ausgaben brachte. Aufgrund ermutigender Verkaufszahlen der Paperback-Variante folgte ein zweites (30 Ausgaben von 2005-2008), drittes (14 Ausgaben 2008/09), viertes (vier
"Secret Wars"-Ausgaben 2015) und zuletzt fünftes Volume (38 Ausgaben 2017-2021).
Zwischen 2017 und 2019 entstand sogar eine drei Staffeln umfassende TV-Adaption für Hulu, das sich durchaus als aussagekräftiges Indiz ob der Qualität der Vorlage werten lässt. Vertieft und bestätigt wird dieser Eindruck durch den vorliegenden Band der "roten" Marvel-Kollektion, der die ersten sechs Ausgaben der ursprünglichen Serie unter dem "Tsunami"-Dach enthält und uns mit Nico, Alex, Karolina, Gert, Chase und Molly bekanntmacht. Sie leben als wohlbehütete Teenager im kalifornischen Malibu und sollen ihre Eltern wieder einmal zu deren jährlichem Treffen begleiten. So weit, so langweilig – bis fünf von ihnen einen Mord durch ihre eigenen Eltern beobachten.
Der Schock sitzt tief: Offenbar handelt es sich bei den Eltern der sechs Jugendlichen um Superschurken, die insgeheim einer Organisation namens Pride dienen. Während sie Molly als die Jüngste von ihnen zunächst außen vorlassen, versuchen Alex & Co. Beweise für das zu sammeln, was sie nicht glauben können. Dabei stellen sie allerdings nicht nur fest, dass sich ihre Befürchtungen bewahrheiten, sondern auch ihr eigenes Leben unmittelbar bedroht ist. Da selbst der Polizei nicht zu trauen ist, müssen die Kids selbst Hand anlegen und sich ihren alten Herrschaften und deren Plänen in den Weg stellen. Eine verdammt schwierige Aufgabe, doch zumindest gibt es da Kräfte und Hilfsmittel, von denen die nunmehrigen Ausreißer bisher nichts ahnten.
Brian K. Vaughan, den vor allem mit seinen Glanzstücken "Y: The Last Man" und
"Saga" verbindet, ist mit "Runaways" einer der erfrischendsten Titel gelungen, die seit der Jahrtausendwende bei Marvel erschienen sind. Jugendliche Auflehnung gegen elterliche Autoritäten wird hier ungemein effizient mit dem Szenario "Teenager entdecken ihre Superkräfte" zu etwas Neuem vermischt, gleichzeitig glückt das (nicht einfache) Bravourstück, die Sprache der jungen Protagonisten fern jeder Peinlichkeit oder Anbiederung zu gestalten. Trotz des fantastischen Settings erscheinen die einzelnen Runaways glaubwürdig und geerdet, dazu gesellen sich feine Einzeiler und kleine popkulturelle Scherze. Wer dem Artwork von Adrian Alphona etwas Zeit gibt, um zu zünden, wird auch in optischer Hinsicht nicht enttäuscht werden.