Feenstaub und rituelle Tänze sind längst das Letzte, was ein Angehöriger des kleinen Volks für seinen Kampf ums Überleben gebrauchen kann.
Zufall? Der Dantes Verlag legt den ersten von zwei Bänden von "Disenchanted" genau ein Jahrhundert nach der Publikation von Fotos vor, die angeblich die sogenannten "Cottingley Fairies" zeigen sollten. Deren Urheberinnen Frances Griffiths und Elsie Wright gaben erst 1983 zu, dass es sich zumindest bei vier der fünf 1917 und 1920 entstandenen Bilder um Fälschungen handeln würde. Obwohl ausgerechnet er mit Sherlock Holmes den Meister der Logik und Deduktion erschaffen hatte, ließ sich davon übrigens sogar Sir Arthur Conan Doyle narren. Eine ebenso skurrile wie witzige Fußnote der Mediengeschichte, die Simon "Si" Spurrier als Ausgangspunkt für den gemeinsam mit Zeichner German Erramouspe kreierten Webcomic "Disenchanted" wählte.
In einem alternativen Großbritannien sind die besagten Schnappschüsse der wundersamen Wesen echt, folglich existiert das sogenannte kleine Volk auch wirklich. Feen, Kobolde und andere Fabelwesen tanzen und springen jedoch nicht, wie man das meinen sollte, durch die Auen und Wälder, sondern leben auf engstem Raum in einer nie in Betrieb genommenen Haltestelle der Londoner Metro, die noch dazu unter einem längst aufgegebenen Sexshop liegt. Der Alltag in Vermintown, so der Name der "kleinen" Großstadt, ist noch dazu alles andere als idyllisch oder märchenhaft, denn die guten alten Zeiten sind längst vorbei. Nur wenigen wie dem Elben-Ältesten Noro liegt noch etwas an den althergebrachten Traditionen, als man noch Spinnennetzte mit Tau bedeckte oder den Menschen (den "Großen") die Haare verknotete.
Folklore und magische Rituale geraten zusehends ins Hintertreffen angesichts einer strikten Gesellschaftsordnung, die sich von den in besseren Wohngegenden untergebrachten Kobolden bis zu den Boggarts spannt, die man nahezu ungestraft umbringen kann. Tibitha Leveret, die Älteste der einst nach Vermintown eingewanderten Elfen, sollte ihren beiden Enkeln Fig und Tael eigentlich als Vorbild dienen, gibt sich aber desillusioniert und in unbeobachteten Momenten selbst den Drogen hin, die in der Stadt zirkulieren und die Polizei auf Trab halten, bei der pikanterweise ihre Tochter Sal arbeitet. Sohnemann Stote, dem gefährlichen Job des Müllsammelns an der Oberfläche nachgehend, hat Stress mit Gläubigern und schwebt alsbald ebenso in Lebensgefahr wie sein rebellischer Spross Fig, der sich in eine hübsche Drogendealerin verguckt.
Dass keineswegs nur Science-Fiction ein probates Mittel für Sozialstudien ist, beweist "Disenchanted". Sein Fantasy-Setting hat allerdings nichts mit der lieblichen "fairy tale" klassischen Zuschnitts zu tun, sondern konterkariert die Illusion von Harmonie und Geborgenheit mit den hier tatsächlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner komprimierten Übeln einer modernen, zusehends orientierungslosen Gesellschaft: Kriminalität, Drogensucht, Polizeiwillkür und der schwelende Hass zwischen jenen, die eigentlich mehr denn je zusammenhalten sollten. Ein extrem schmackhaftes Gebräu hat Si Spurrier hier angerührt, verfeinert von German Erramouspe, der putzige Details wie Mäuse als Lasttiere oder Dosen und Flaschen der "Großen" als Gebäude genauso gekonnt in Szene setzt wie Charaktere, die sowohl Schimpfwörter als auch ein Messer schnell zur Hand haben. Superb!