Gut Ding braucht Weile. Fünf lange Jahre dauerte es, bis Jason Lutes mit „Berlin: Bleierne Stadt“ den zweiten Teil seiner Trilogie über das Berlin der Weimarer Republik vorlegte. Das Warten hat sich gelohnt.
Kurt Severing ist Journalist bei der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“. Er sieht die Gefahren für die Weimarer Republik und schreibt verzweifelt gegen den aufkommenden Nationalsozialismus an. In der Eisenbahn lernt er die junge Marthe Müller kennen (im Verlauf der Geschichte wird aus den beiden ein Paar werden), die gegen den Wunsch ihrer Eltern von Köln nach Berlin zieht, um Malerei zu studieren. Ihr erklärt er Berlin so: „Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten, Demokraten, Republikaner, Gauner, Bettler, Diebe... das ganze Spektrum.“ Und dieses Spektrum breitet Lutes nun vor dem Leser aus.
Die jüdische Familie Schwartz, die zwischen Tradition und Assimilation steht: Der Großvater strenggläubig, der Vater gewiefter Geschäftsmann, Sohn David verkauft heimlich kommunistische Zeitungen. Die Arbeiterfamilie Braun, die an politischen Differenzen zerbricht; die Mutter sympathisiert mit den Roten und verlässt mit ihren Töchtern den Mann; dieser ist Nationalsozialist und behält seinen Sohn, um ihn linientreu zu erziehen. Der jüdische Landstreicher Pavel, der sich mit dem Verkauf dessen, was er im Müll findet über Wasser hält. Die Variete-Soubrette Pola, die gelegentlich als Aktmodell in der Akademie arbeitet. Marthes Malklasse. Der Kommunist Irwin Immenthaler. Severings Geliebte Margarethe. Die Berliner Polizei. Die Lehrerin Apfelbaum. Prostituierte. Straßenjungen. SA marschiert. Und und und.
Berlin, die Großstadt, ein Kaleidoskop, ein riesiges Mosaik. Und Lutes blickt in seiner Geschichte auf die einzelnen Mosaiksteinchen, vulgo Menschenschicksale, die zusammen ein Ganzes ergeben, ohne dabei den politischen Hintergrund außer Acht zu lassen. Er zoomt geschickt zwischen historischer Gesamtschau und persönlicher Detailansicht hin und her. Die historischen Eckpfeiler des ersten Bandes sind die deutsche Novemberrevolution 1918 und der 1. Mai 1928: Die Berliner Polizei schießt an diesem Tag auf demonstrierende Kommunisten und tötet dreißig von ihnen.
„Berlin: Bleierne Stadt“ (Originaltitel: „City of Smoke“) setzt dort an, wo der erste Teil der Graphic Novel aufhört: Kurt Severing recherchiert Augenzeugenberichte zum 1. Mai 1928, an dem auch Gudrun Braun starb. Deren Tochter Silvia schließt sich Pavel an. Als der von SA-Männern schwer verletzt wird, nimmt sie die Familie Schwartz auf. Marthe Müller trennt sich von Severing, genießt das verruchte Nachtleben und beginnt eine lesbische Beziehung mit einer Kommilitonin. Die Weltwirtschaftskrise setzt ein, Banken gehen bankrott. Pola verliebt sich in den Klarinettisten einer schwarzen Jazzband und verlässt mit ihm schließlich Deutschland, just am 14. September 1930, als die NSDAP bei den Wahlen zweitstärkste Partei wird. Hier endet der zweite Teil.
Man sieht: Lutes bleibt ganz nahe an den realen historischen Ereignissen, immer wieder tauchen auch - oft nur ganz kurz - historische Persönlichkeiten auf (um nur einige zu nennen: Joseph Goebbels, Josephine Baker, Ernst Thälmann, Horst Wessel, die Redakteure der „Weltbühne“, u.a. Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky).
Lutes verlangt seinen LeserInnen einiges ab: Er hält sich nicht lange damit auf, die Biographien und Bedeutung dieser Persönlichkeiten zu erläutern oder die politischen Hintergründe bis ins kleinste Detail auszuleuchten. Eigenrecherche ist hier gefragt, leicht konsumierbar auf dem Silbertablett wird von Lutes nichts serviert. Die historisch interessierte Leserschaft wird bei der Lektüre also nicht darum herumkommen, sich ein Geschichtsbuch oder Lexikon in Griffweite zu legen. Muss denn das sein? Ja, es muss! Einerseits für das tiefere Verständnis der politischen Sachverhalte, andererseits lässt sich so erst die Leistung Lutes würdigen, ganz nahe bei den historisch verbrieften Ereignissen zu bleiben.
Im Gegensatz zur weitaus geläufigeren Allegorie vom Berlin der 1920er als einen Vulkan, in dem der Nationalsozialismus schon brodelt und immer wieder zu ersten Eruptionen ausbricht, wählen Lutes (beziehungsweise die deutschen Übersetzer) starrere Metaphern: Berlin, die steinerne, beziehungsweise bleierne Stadt. Und Lutes setzt diese Metaphern auf der Ebene der Bildsprache dementsprechend um. Seine Zeichnungen sind harte, statische, fast an Holzschnitte erinnernde Bilder, deren Detailfülle und -treue immer wieder staunen macht.
In einem Panel erweist Lutes George Grosz seine Referenz, und der ästhetische Unterschied zwischen beiden Zeichnern ist evident: Hier Grosz’ in den 1920ern entstandene polemische Charakterstudien, die Groß- und Kleinbürger, Vertreter von Klerus, Großfinanz und Militär, kurz – die herrschenden Klasse – demaskieren, graphische Kommentare zum Zeitgeschehen sind. Da Lutes, der nicht kommentiert, sondern in nüchterner Zeichensprache abbildet; sein genauer, realistischer Strich, der Menschen, Stadtansichten und geschichtsträchtige Vorgänge möglichst neutral, realistisch und detailgetreu wiedergeben will.
Der letzte Satz des zweiten Bandes, gesprochen im Rundfunk anlässlich des Wahlerfolges der NSDAP lautet „Wohin steuert diese Republik?“ Wir wissen die Antwort, sind aber gespannt, wie sie im dritten (und letzten) Band von Lutes ausgeführt werden wird. Bleibt nur eines zu wünschen: Hoffentlich lässt er die Freunde anspruchsvoller Graphic Novels nicht wieder fünf Jahre warten.
# # # Manuel G. Mattweber # # #