In der zweiten Hälfte der 1990er hatte Marvel, wie auch der Rest der amerikanischen Comic-Industrie, nicht viel zu lachen. Mitte des Jahrzehnts war die gigantische Spekulationsblase geplatzt, an deren Entstehung auch das "House of Ideas" seinen Anteil hatte und teilweise auch deshalb Ende 1996 Bankrott anmelden musste. Um frisches Blut von Independent-Künstlern hereinzubringen und neue kreative Wege zu gehen, outsourcte man nur kurze Zeit nach dem nur teilweise gelungenen Experiment "Heroes Reborn" erneut Charaktere des Verlags, darunter Daredevil, Punisher und die Inhumans. Joe Quesada, damals eine Hälfte des Verlags Event Comics, wurde zum Chefredakteur des neuen Imprints "Marvel Knights" ernannt.
Sein erster Coup war es, den aufstrebenden Regisseur und Comic-Crack Kevin Smith als Autor für "Daredevil" zu gewinnen, wobei er selbst am Zeichenbrett Platz nahm und sein Langzeitkollege Jimmy Palmiotti tuschte. Der Achtteiler "Guardian Devil", den dieses hochkarätige Team gestaltete, machte aus dem Mann ohne Furcht beinahe einen Mann ohne Glauben, denn seine Religiosität wird darin tief erschüttert. Dafür sorgen mehrere tragische Ereignisse in seinem unmittelbaren Umfeld, die alle mit einem Baby zusammenhängen sollen, das ihm übergeben wird. Handelt es sich bei dem kleinen Mädchen tatsächlich um den Antichristen höchstpersönlich, der die Apokalypse einleiten wird?
Jede der vom Duo Quesada/Palmiotti superb illustrierten und mit feinster Computerkolorierung versehenen Seiten spiegelt auf erfrischende Weise die Faszination wider, die den Charakter Daredevil ausmacht. Kevin Smith, ebenso wie Matt Murdock geprägt vom Katholizismus, nimmt den Faden von
Frank Millers "Born Again" auf und stürzt den Titelhelden in eine tiefe Glaubenskrise und einen Trip durch die Abgründe seiner eigenen Seele. An dessen Ende erstens eine überraschende Wendung steckt, mit der man so nicht gerechnet hätte – vor allem, wenn man an Smiths wenig später erschienenen Kinofilm "Dogma" denkt, der eine ähnliche Thematik verfolgt. Und zweitens jede Menge Text, denn Smith ist bekanntlich kein Freund kurzer Reden!