Eine illustre Abendgesellschaft wird zur Geburtsstunde von etwas unsagbar Bösem.
Eines Abends zu Beginn des 20. Jahrhunderts trifft sich der Justizrat Gontram mit einigen Freunden zu einem geselligen Beisammensein in seinem Haus am Rhein. Durch ein zufälliges Ereignis werden die Gespräche der kleinen Gesellschaft in eine unerwartete Richtung gelenkt. Man kommt auf die besonderen Kräfte der seltenen und geheimnisvollen Alraunenwurzel und die Mythen und Sagen, die man sich über sie erzählt, zu sprechen. Die Unterhaltung gerät in immer seltsamere Gefilde und schließlich wird beschlossen, die seit Jahrzehnten im Besitz der Familie Gontram befindliche Alraune für einen grotesken Versuch zu benutzen.
Das Ziel ist es, ein Mischwesen aus Pflanze und Mensch zu erschaffen. Zu diesem Zweck ersinnt man einen sinisteren Plan. Ohne viel Zeit zu verlieren, werden die nötigen Vorkehrungen getroffen, um die ungeheuerlichen Ideen in die Tat umzusetzen. Schnell ist eine junge Prostituierte gefunden, die für eine großzügige Summe nur allzu bereit ist, das merkwürdige Kind auszutragen. Auch die Bereitstellung der anderen notwendigen Mittel verläuft erfreulich schnell und bereits nach wenigen Monaten ist das äußerst fragwürdige Experiment von Erfolg gekrönt. In der Klinik des von jeder Moral befreiten Arztes, Geheimrat Jakob ten Brinken, wird ein gesundes Kind geboren. Das Mädchen bekommt den Namen ihres Schöpfers, Alraune ten Brinken.
Schon in den ersten Tagen nach dem sie das Licht der Welt erblickt hat, scheinen sich die Legenden, die über die Alraunenwesen berichten, zu bestätigen. Das Kind verhilft dem Geheimrat zu ungeahnten Reichtum und Erfolg, allerdings blenden die Gäste der unseligen Abendgesellschaft dabei die unheilvollen Eigenschaften der Kreatur aus. Ein fataler Fehler. Langsam aber unaufhaltsam spinnt Alraune ihr Netz und beginnt alles und jeden in ihrer Umgebung in den Untergang zu stürzen.
Bevor an dieser Stelle näher auf die vorliegende Folge des "Gruselkabinett" eingegangen wird, muss man den Produzenten von Titania Medien Respekt dafür zollen, dieses Hörspiel in der vorliegenden Form produziert zu haben, denn der Inhalt hätte sicherlich einige andere Labels davon Abstand nehmen lassen, diese Geschichte zu vertonen. So wird sich der eine oder andere Stammhörer der Reihe mit Grauen abwenden, wenn die Erzählung der Alraune an ihre Ohren gelangt. Das Grauen manifestiert sich hier nicht durch furchterregende Monster oder Gespenster, sondern durch das von jeglichem Anstand und Moral befreite Handeln fast aller Akteure der Handlung.
Hanns Heinz Ewers macht sich die Schattenseiten der Gesellschaft zu nutzen und verarbeitet sie nahezu fast komplett in seiner 1911 erschienen Geschichte "Alraune". Umso erstaunlicher für die Zeit, in der sie veröffentlicht wurde, denn die Charaktere sind zerfressen von Habgier, Neid und Sadismus. Moralische Verwerflichkeit gehört ebenso wie jegliche Form der sexuellen Ausschweifung zum guten Ton. Wenn Alraune sich der gleichen Mittel bedient wie die Menschen ihrer Umgebung, passt sie sich lediglich dem Milieu an, in dem sie aufgewachsen ist. Ein Szenario, das sicherlich für einige der Hörer zuviel ist, denn dies ist eine Art des Horrors, wie sie uns täglich in verschiedenen Formen in den Nachrichten präsentiert wird.
Über einen Zeitraum von über zwei Jahrzehnten erstreckt sich in epischer Breite die Schilderung jener Ereignisse, die letztendlich zur vollkommen moralischen, finanziellen und gesellschaftlichen Vernichtung aller Beteiligten jener schicksalhaften Nacht führt. Immer im Mittelpunkt der Ereignisse: Alraune ten Brinken. Der Höhepunkt dürfte dabei sicherlich das Aufeinandertreffen der undurchsichtigen und manipulativen Alraune und jenes Mannes sein, der als erstes jenen verwerflichen Gedanken hegte, der schließlich in ihrer Erschaffung mündete.
Die musikalische Untermalung lässt keine Wünsche offen und leistet, wie so oft im "Gruselkabinett", einen nicht unerheblichen Anteil daran, die notwendige Atmosphäre zu erschaffen. Neben der Aufgabe, die Emotionen zum Hörer zu tragen, gelingt es den Produzenten auch, mithilfe der Musik eine historische Orientierungshilfe an die Hand zu geben. Im Fall von "Alraune" greifen die beiden wichtigsten Mittel für ein erfolgreiches Hörspiel, nämlich Sprache und Musik, nahezu perfekt ineinander. Gerade wenn man eine Story wie im vorliegenden Fall mit Leben füllen und die Abgründe der menschlichen Existenz veranschaulichen möchte, bedarf es Sprecher, denen es gelingt, die moralische Verwerflichkeit mit ihrer Stimme glaubhaft zu transportieren. Selten zuvor ist dies derartig perfekt gelungen wie im Fall von "Alraune".
Johannes Raspe hat keinerlei Mühe damit, den verkommenen und nur auf den eigenen Vorteil bedachten Frank Braun in Szene zu setzen. Sabine Bohlmann gelingt es die verschiedenen Facetten der äußerst vielschichtigen Figur der Alraune zum Rezipienten zu tragen, sodass es einem mehrmals eiskalt den Rücken hinunterläuft. Für mich eine der eindringlichsten Interpretationen einer Rolle der letzten Jahre. Solveig Duda zeigt ihr Talent bei der Gestaltung der triebhaften und nach Ausschweifungen gierenden Alma Raune und Hans Beyer liefert eine beängstigende Performance als berechnender und eiskalter Pädophiler Jakob ten Brinken. So könnte man dies sicherlich noch eine ganze Weile fortsetzen, denn wirklich jeder, der in diesem Hörspiel zu hören ist, leistet Großartiges.
Das "Gruselkabinett" brachte über die Jahre eine Menge guter und sehr guter Hörspiele auf den Markt. Alraune ist deutlich über vielen dieser Produktionen anzusiedeln und sichert sich zweifellos einen Platz in den ewigen Top 10 dieser Reihe. Es wird Menschen geben, die dieser Einschätzung widersprechen werden, denn für sie ist dieses Hörspiel nur schwer ertragbar, weil nie der moralische Zeigefinger erhoben wird, die geschilderten Ereignisse zu verurteilen. So offenbart sich recht schnell, wer immer noch den größten Schrecken verbreitet, niemand anderes als der Mensch. Eine Tatsache, die mancher verdrängen möchte und nur schwer akzeptieren kann. Umso mehr ist es Titania Medien hoch anzurechnen, diese Geschichte eines vergessenen Autors wieder ans Tageslicht gezerrt und sich vor möglichen Anfeindungen nicht gefürchtet zu haben.