Karl H. Stingeder beleuchtet für SLAM einen bemerkenswerten Games-Studies-Sammelband. Grundkonsens aller 14 Beträge ist die zentrale Bedeutung von Konflikten in der Menschheitsgeschichte.
Abstract
Virtuelle Spielräume sind Zonen der Widersprüchlichkeit: Als solche bilden sie Schnittpunkte für virtuelle Kontakte, Konflikte und Kämpfe. Die Tradition des Konflikts in digitalen Spielen ergibt ein Spiegelbild der Kultur – mit der Beleuchtung von Konflikten wird die Entwicklung der Menschheit reflektiert.
***
Der vorliegende Sammelband ist klar strukturiert und präsentiert sich mit fünf Kapiteln zu je zwei bis drei Beiträgen über folgende Themenbereiche: Innere Konflikte, ideologische Konflikte, ästhetische Konflikte sowie narrative Konflikte. Der Schlusspunkt wird mit dem Kapitel über Metakonflikte gesetzt. Das Geleitwort stammt aus der Feder von Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kunstgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie. Er unterstreicht das Fehlen einheitlicher Paradigma und wissenschaftlicher Standards bei der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Deutung von Computerspielen. In diesem Zusammenhang nimmt Hochgeschwender Bezug auf die Auswahl der Beiträge und Schwerpunktsetzung des Sammelbands: Angesichts des aktuell noch fehlenden Paradigma-Rahmens in der Games-Studies-Forschung sei es gut nachvollziehbar, dass die Herausgeber auf allzu enge methodische Vorgaben verzichtet haben. Das kann als eine bewusste Entscheidung mit dem Ziel einer vielschichtigen und tiefschürfenden Debatte verstanden werden. Es ist ein Weglassen, ein Wagnis. Und die Wette geht auf. Bereits das erste Kapitel – "Innere Konflikte" – veranschaulicht, welch reichhaltige Konfliktbilder gemalt und interpretiert werden. Während im einleitenden Beitrag Bettina Lämmle die inneren sowie äußeren Konfliktebenen des "Prince of Persia" und somit die Handlungsmotivation des Helden in "Prince of Persia: Warrior Within" (Ubisoft 2004) aus einem psychologisch geprägten Blickwinkel beleuchtet, gewährt Christian Huberts Einblicke in den Konflikt zwischen realen und virtuellen Welten.
Auf Basis einer für einen wissenschaftlichen Text erfrischend unkonventionellen Textouvertüre verbindet Huberts seine eigene Gefühlswelt mit der imaginierten Lebenswelt seines
"World of Warcraft"-Avatars. Dabei ist der gewählte Charakter ein Untoter. Huberts beschreibt im Text zunächst ausführlich seinen angeschlagenen Gesundheitszustand. Seit Tagen ist er krank und nicht in er Lage, seinen Text für den vorliegenden Sammelband zu verfassen. Dann verknüpft er seine Gefühlswelt und den auf seinen Schultern lastenden Abgabetermin mit der Welt seines virtuellen Spielcharakters: "Erfüllt von meinem Geist begibt sich der Zombie in Richtung Wald. Ich wundere mich, wie schnell ich mit meinem Avatar verschmelze. Sein versehrter Polygonenkörper stellt sich als weitaus brauchbarer heraus als meine kränkliche Hülle im sogenannten 'Real Life' (RL)". (Huberts 2011: 33-34) Huberts sieht in "World of Warcraft" "[ein] ständiges Experiment. Ständige Berührung. Ständiger Konflikt". (Huberts 2011: 36) Allerdings gibt es einen entscheidenden Schönheitsfehler: Die Spielmechanik, so Huberts, biete keine Überraschungen. Hier verortet der am grippalen Infekt marodierende Computerspieler den eigentlichen Konflikt in "World of Warcraft": Eine vorhersagbare Wirklichkeit, eingebettet in eine feingeschliffene, glatt polierte Spielmechanik.
Der daran anschließende Artikel von Souvik Mukherljee ist einer von zwei ausschließlich auf Englisch vorliegenden Beiträgen des Sammelbands. Im Gegensatz zum – in der Sichtweise von Christian Huberts – zu glatt polierten Welt von "World of Warcraft", wartet der kontrovers diskutierte Flughafen-Level ("Kein Russisch") beim Ego-Shooter
"Call of Duty: Modern Warfare 2" (Infinity Ward 2009) mit Ecken und Kanten auf.
Spieler schlüpfen in die Rolle eines CIA-Undercover-Agenten, der sich erfolgreich in eine Terrorzelle eingeschleust hat. Die Terroreinheit möchte einen Anschlag auf dem Flughafen Moskau durchführen. Die Mission beginnt kurz vor dem geplanten Anschlag. Als Spieler ist man nun einem ethisch-moralischen Konflikt ausgeliefert: Möchte man die in der Mission vorgesehenen Spielinhalte sehen und miterleben, besteht keine Möglichkeit, das Massaker am Flughafen zu verhindern oder im Zuge des Terroranschlags unschuldige Zivilisten zu retten. Zwar kann vor Beginn des Levels bewusst die Wahl getroffen werden, die Mission zu überspringen, entscheidet man sich jedoch dagegen, resultieren alle gegen die Terroristen gerichtete Attacken stets in einem "Game Over", dem Abbruch der Mission. Das Game-Design sieht also kein Abweichen vom vorgegebenen Pfad vor. Der Hintergrund dazu: Die Tarnung des CIA-Agenden darf auf keinen Fall aufliegen, so das ultimative Missionsziel. Die Spieler werden somit in die Rolle des machtlosen Passagiers zurückgedrängt. Mukherjee verortet im "Kein Russisch"-Level die Spitze eines ethisch-moralischen Gameplay-Eisbergs, daher auch die besonders emotional geführte Debatte nach Veröffentlichung des Ego-Shooters. Abgesehen vom kontrovers diskutierten Flughafen-Level gibt es aber eine Vielzahl von Spieltitel, die moralische Entscheidungsoptionen bieten: Beispielsweise
"BioShock" (2K 2007), "Fable" (Microsoft Game Studios 2004) oder
"Fallout 3" (Bethesda 2008). Weiters ist "Deus Ex" (Ion Storm Austin 2000) in seiner Vorreiterrolle von multiplen Lösungswegen erwähnenswert. Miguel Sicart nahm den Egoshooter- und Rollenspiel-Hybriden in seinem Buch
"The Ethics of Computer Games" als Ausgangspunkt seines wissenschaftlichen Vorhabens mit dem Ziel einer umfassenden Beleuchtung des moralischen Subjekts.
"Denn im Gegensatz zu vielen anderen, auf Action basierenden Computerspielen, gelingt 'Deus Ex' das Kunststück, die Spieler zu einer
Reflektion der eigenen Handlungen zu veranlassen." Sicart veranschaulicht die in "Deus Ex" inhärenten Entscheidungsmöglichkeiten und knüpft an die Arbeiten von Michel Foucault und Alain Badieu an: Konflikte können mit dem Heraufbeschwören eines "Haderns" mit dem eigenen "spielerischen Gewissen" rund um Spielziele und Entscheidungen im Spiel verortet werden. So gesehen drängt die Gamemechanik von "Call of Duty – Modern Warfare 2" im Zuge der "Kein Russisch"-Mission geneigte Spieler in einen moralischen und ethischen Konflikt. Dieses spielmechanische Korsett – entweder die Mission wird übersprungen oder die Spieler werden zu Zusehern degradiert – hält den Rezipienten einen Spiegel vor Augen und veranlasst zu einer Reflektion "humaner" und "inhumaner" ethischer Systeme.
Fazit: Rudolf Thomas Inderst und Peter Just servieren als Herausgeber einen für die Game Studies wichtigen und herausragenden Beitrag: Das Buch löst das im Untertitel gegebene Versprechen ein und beleuchtet differenziert und vielschichtig Konzepte und Tradition des Konflikts in digitalen Spielen. Unter anderem betrachten die Autoren Konflikte durch die ästhetische, geschichtliche oder auch politikwissenschaftliche Brille. Der Anspruch des Sammelbands ist durch den wissenschaftlichen Text- und Zitationscharakter auf durchwegs hohem Niveau. Zwei Artikel sind lediglich in der englischen Originalfassung verfügbar, alle übrigen Beiträge sind auf Deutsch. Zwar lockern viele Spielereferenzen sowie die eine oder andere veranschaulichende Nacherzählung von spezifischen Spielsituationen den Lesefluss auf, jedoch sind die Artikel für eine "Lektüre nebenbei" sicherlich zu umfangreich und zu fordernd.
Eine klare Kaufempfehlung kann getrost für alle ausgesprochen werden, die mit Game Studies regelmäßig in Berührung sind und das erlangte Wissen vertiefen möchten. Allen Videospiel-Aficionados, welche umfassend in die Welt der Konfliktursachen und Konfliktausprägungen in digitalen Spielen eintauchen möchten und sich mit analytischen Texten anfreunden können, sei die Lektüre von "Contact • Conflict • Combat" sehr ans Herz gelegt.
# # # Karl H. Stingeder # # #