Zweitausend Jahre alt und kein bisschen müde – das ist die katholische Kirche, deren vielfältigem Sündenregister sich Michael Hebeis widmet.
"In Österreich passiert soviel, es fluktuiert alles, Heraklith-mäßig. Alles fließt, zum Beispiel in der Kirche. (…) Die Kirche ist wieder gut drauf, zum ersten Mal ist sie richtig weltoffen. Offen in alle Richtungen! In der Kirche ist schon früher viel von hinten rum passiert."(Mini Bydlinski, "Das Schweigen der Kirchenlämmer", aus: "Abhörjournal", 1995)
Worüber da ein bekannter österreichischer Kabarettist einst seine Späßchen machte, wuchs sich zur größten Krise der katholischen Kirche in der Alpenrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Im Oktober 1995 veröffentlichte ein Nachrichtenmagazin die Vorwürfe eines ehemaligen Schülers des Wiener Erzbischofs Hans Hermann Gröer, nach denen sich dieser in seiner Zeit als Religionslehrer im Benediktinerkloster Göttweig an Seminaristen sexuell vergangen haben sollte. Was folgte, war nicht nur der baldige Rücktritt Gröers, sondern auch die Initiierung eines von einer halben Million Menschen unterstützten Kirchenvolksbegehrens. Nicht zuletzt wegen der zögerlichen Reaktion der Kirche und des Mauerns gegen ihre Kritiker liefen ihr die Gläubigen in den folgenden Jahren in Scharen davon – ein Bild, dass sich kürzlich mit dem Bekanntwerden neuer Vorwürfe gegen Betreuer in kirchlich geführten Heimen und Schulen fortgesetzt hat. Fast 90.000 Menschen kehrten der katholischen Kirche im Jahr 2010 den Rücken und sorgten so für den höchsten Stand an Austritten seit 1945.
Doch nicht nur in Österreich, auch bei den deutschen Nachbarn wenden sich die Schäfchen aufgrund der publik gewordenen Missbrauchsfälle von der katholischen Kirche ab. Die merkt allmählich, dass ihre jahrzehntelang praktizierte Methode, des sexuellen Missbrauchs beschuldigte Seelsorger ohne gröbere Konsequenzen einfach an eine andere Stelle zu versetzen, nicht mehr funktioniert und die eingebrachten Klagen von ehemaligen Opfern auch an der finanziellen Substanz zu nagen beginnen. Die Kollegen in Irland und den Vereinigten Staaten können da ein Liedchen singen, schließlich haben die dortigen Missbrauchsfälle zu millionenschweren Strafzahlungen geführt und das eine oder andere Bistum in den Konkurs getrieben. Und trotz aller Beteuerungen, künftig wachsamer zu sein, scheinen die Kirchenherren noch immer nichts aus den zahlreichen Affären gelernt zu haben. So hat es zumindest den Anschein für den Normalbürger. Der Eindruck verfestigt sich, dass die katholische Kirche verkrustet, unbeweglich, weltfremd und mitunter lebensfeindlich geworden ist – was sich mit der Lektüre von Michael Hebeis "Schwarzbuch Kirche – Und führe uns nicht in Versuchung" bestätigt.
Der deutsche Rechtshistoriker legt eine neun Kapitel umfassende Klageschrift vor, die ein klares Ziel verfolgt: Die zahlreichen Verfehlungen der Kirche zusammenzutragen, die sich in vielen Jahrhunderten angesammelt haben und teilweise immer noch Nachhall finden in den von ihren Vertretern getätigten Aussagen und Aktionen. Den verhängnisvollen Beginn des Irrwegs verortet er in der Entscheidung der Nachfolger Petri im Mittelalter, den Heiligen Stuhl neben seiner Autorität in Glaubensfragen auch als weltliche Macht zu etablieren. Das hatte nicht nur die hinreichend bekannten Kreuzzüge ins Heilige Land gegen die Muslime zur Folge, sondern auch die unter demselben Namen fungierenden blutigen Attacken auf noch nicht christianisierte Völker in Europa. Die blutige Niederschlagung der als ketzerisch erachteten neuen religiösen Bewegungen der Albigenser und Waldenser wird dann auch als exemplarisch für die frühe Erstarrung der Kirche in ihren Dogmen dargestellt: Wer auch nur geringfügig von monopolistisch etablierten Glaubensgrundsätzen abwich, wurde mit Feuer und Schwert bestraft. Als fatal für die beanspruchte moralische Oberhoheit der Kirche wirkten sich die Erfolge aus, die man mit dieser Methode erzielte. So ist auch die Reaktion auf die Reformbewegungen unter Luther, Calvin und Konsorten keine Überraschung, die in handfeste Konflikte und schließlich den Dreißigjährigen Krieg mündete, der bekanntermaßen halb Europa verwüstete.
Mit dem Fortschreiten der Jahrhunderte, so mag man während des Lesens glauben, bewegte sich die katholische Kirche selbst nicht oder fiel sogar in archaische Verhaltensmuster zurück. Wissenschaftliche Erkenntnisse und soziale Neuerungen, die das Leben der Menschen verbessern sollten, wurden verteufelt oder unterdrückt. Mit der Französischen Revolution und den Ideen der Aufklärung tut sich die Kirche sowieso bis heute schwer, politische und geistige Strömungen der Moderne sind grundsätzlich suspekt. Einen Ismus jedoch haben die hohen Herren ins Herz geschlossen, nämlich den Kapitalismus. Im 20. Jahrhundert zwar großer Teile seines Staatsgebiets beraubt, hat der Vatikan es in den letzten Jahrzehnten verstanden zumindest ordentlich Kasse zu machen. Ohne Rücksicht auf moralische Prinzipien wurde da investiert, beschäftigte und deckte man Finanzbetrüger ersten Ranges und paktierte mit korrupten, vornehmlich italienischen Politikern. Parallel zum wirtschaftlichen Aufstieg wurde auch ideologisch aufgerüstet. Das macht sich vor allem im ungehinderten Einfluss von Hardlinern wie dem "Opus Dei" oder den unzähligen, teilweise sogar sektenähnlichen neuen kirchlichen Orden und Vereinen bemerkbar, während etwa die Befreiungstheologie aus Lateinamerika seit langem unterdrückt werden.
Um auf alle Aspekte einzugehen, die auf den rund 280 Seiten des "Schwarzbuchs" abgehandelt werden, fehlt an dieser Stelle der Platz. Es bleibt dem Leser bei der Lektüre jedoch mehr als einmal der Mund offen stehen angesichts der in der Geschichte zur Schau gestellten Dummheit, Arroganz und Dreistigkeit. Auf der anderen Seite erfährt man einige bisher weniger bekannte Details, etwa über den finanziell durchaus lohnenswerten Aspekt der Inquisition, die noch bis ins frühe 19. Jahrhundert Opfer gefordert hat, die Verstrickungen der Kirche in den Kolonialismus und die vielzähligen Versuche, die verschiedenen Neuerungsbewegungen innerhalb der Kirche zu unterdrücken. Alle relevanten Themenbereiche werden in den einzelnen Kapiteln abgedeckt, einzig der Dreißigjährige Krieg hätte sich eine tiefere Darstellung verdient. Ansonsten aber ist Michael Hebeis kein Vorwurf zu machen, er hat ein interessantes und nachdenklich stimmendes Werk vorgelegt, das zwar viele Detailbereiche nur berühren kann, aber auf jeden Fall zum Nachdenken und mit Literaturtipps zum Weiterlesen auffordert.
# # # Andreas Grabenschweiger # # #